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2020/2021/2022

25. Mai

"Härter als erwartet": Ankommen in Deutschland mit der Lern-Praxis-Werkstatt

Tesfaye M. (Name geändert) ist aus politischen Gründen aus Eritrea geflüchtet. 2018 kommt er nach Weinheim, wo bereits seine Frau und Tochter leben. Mit Unterstützung der
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25.05.2020

"Härter als erwartet": Ankommen in Deutschland mit der Lern-Praxis-Werkstatt

Tesfaye M. (Name geändert) ist aus politischen Gründen aus Eritrea geflüchtet. 2018 kommt er nach Weinheim, wo bereits seine Frau und Tochter leben. Mit Unterstützung der Lern-Praxis-Werkstatt verbessert er sein Deutsch, findet eine Arbeit in einem Seniorenheim - und eine zweite "Familie".
Es gibt Tage, an denen scheint Tesfaye das Leben in Deutschland sehr schwer. Die Bürokratie. Beengte Wohnverhältnisse. Die Schichtdienste im Seniorenheim, wo bei ihm als Ungelerntem oft die lästigsten Arbeiten hängenbleiben. Und sein Deutsch - inzwischen mit echtem "Woinemerisch" versetzt - verbessert sich in seinen Augen viel zu langsam.

Aber der 27-Jährige will es unbedingt schaffen, für sich und seine Familie eine Zukunft in Deutschland aufbauen. Auch wenn der Weg härter ist, als er es erwartet hat. "Von wegen, in Deutschland liegt das Gold auf der Straße", fasst er seine Erfahrungen zusammen.

Nach seiner Ankunft in Deutschland, damals noch in Osnabrück, wurde er schnell in Hilfstätigkeiten, unter anderem in einem Lager, vermittelt. Die Sprache geriet in den Hintergrund.


Ankerpunkt Lern-Praxis-Werkstatt

Über einen Wohlfahrtsverband kommt Tesfaye im August 2018 als einer der ersten Teilnehmenden zur Lern-Praxis-Werkstatt. Die Lern-Praxis-Werkstatt, angesiedelt in einer Werkshalle der Firma Naturin, wurde als niederschwelliges Angebot entwickelt, um Geflüchtete an die Anforderungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarkts heranzuführen. Gerade für volljährige, nicht mehr schulpflichtige junge Geflüchtete mit schlechter Bleibeperspektive nämlich gibt es bislang kaum passende Möglichkeiten zur Weiterbildung.

In den ersten Beratungsgesprächen wird Tesfaye schnell bewusst, dass eine Zukunftsperspektive in Deutschland von guten Sprachkenntnissen und einer Ausbildung abhängt. Er beginnt einen Sprachkurs an der Weinheimer Volkshochschule, vormittags besucht er die Lern-Praxis-Werkstatt. Dort kann er sich in unterschiedlichen handwerklichen Tätigkeiten erproben, an gemeinwohlorientierten Projekten außerhalb der Werkstatt teilnehmen, aber auch mit anderen Teilnehmenden und Ehrenamtlichen in Kontakt kommen - und Deutsch sprechen. "Meine deutsche Familie" nennt er die Lern-Praxis-Werkstatt. Die dort durchgeführte Potenzialanalyse ergibt, dass Tesfayes Stärken vor allem im sozialen Bereich liegen. Er selbst hatte bisher wenig Vorstellungen, wohin sein beruflicher Weg gehen könnte.


Chancen und Kompromisse

Tesfaye ergreift die Gelegenheit beim Schopf: Bei einem Renovierungsprojekt in einem Weinheimer Seniorenheim spricht er die Leitung des Hauses kurzerhand an und erhält, unterstützt durch die Vermittlung eines ehrenamtlichen Helfers, die Möglichkeit zu einem zweiwöchigen Praktikum in der Altenpflege. Dieses klappt so gut, dass Tesfaye ein Ausbildungsplatz angeboten wird. Bis zum Ausbildungsbeginn kann er Vollzeit als Pflegehilfskraft im Heim tätig sein.

Die Arbeit im Seniorenheim ist "kein Traumjob" für Tesfaye. Aber er ist pragmatisch, sieht die positiven Seiten: "Von Kartons kann ich kein Deutsch lernen", schmunzelt er mit Blick auf seine ersten Hilfstätigkeiten in Deutschland. Auch dafür, dass ältere Menschen, die nicht mehr selbst für sich sorgen können, in einem Heim untergebracht sind und nicht bei ihrer eigenen Familie - eine Vorstellung, die für ihn anfangs befremdlich war - kann er mehr und mehr Verständnis aufbringen.

Aus der Ausbildung wird letztendlich nichts: Tesfaye, der in Eritrea nur die Grundschule absolvierte, kann die notwendigen formalen Voraussetzungen zur Ausbildungsaufnahme nicht erbringen. Er arbeitet weiterhin als ungelernte Pflegekraft im Heim. Die Stelle ist für Tesfaye, der mittlerweile zum zweiten Mal Vater geworden ist, nicht nur wichtig, um seine Familie zu ernähren, sondern kann ihm im Fall einer Ablehnung seines Asylantrags eine sogenannte Beschäftigungsduldung ermöglichen. Noch hängt sein Verfahren in der Schwebe.

Seine Kinder sollen es einmal besser haben, ist nun sein größter Wunsch. An seinen freien Tagen schaut er oft bei seiner "deutschen Familie" vorbei. Auch eine größere Wohnung hat er mittlerweile gefunden. Beim Umzug helfen Teilnehmer und Ehrenamtliche der Lern-Praxis-Werkstatt.

Die Freudenberg Stiftung war Mitinitiatorin der Lern-Praxis-Werkstatt und fördert sie gemeinsam mit dem Rhein-Neckar-Kreis, der Stadt Weinheim und weiteren Stiftungen. Die Firmen Naturin und Freudenberg unterstützen das Projekt mit Räumlichkeiten und Ausstattung.