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2020/2021/2022

29. September

Einsatz für Kiseljaks Jugend: Ein junger Rom wird zum Vorbild

Viele junge Menschen in Bosnien sehen wenig Zukunftsperspektiven für sich. Die Wahlbeteiligung ist niedrig, nach Westeuropa auszuwandern scheint oft eine verheißungsvolle Lösung. Besonders benachteiligt ist die Roma-Bevölkerung. In Kiseljak, einer
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29.09.2020

Einsatz für Kiseljaks Jugend: Ein junger Rom wird zum Vorbild

Viele junge Menschen in Bosnien sehen wenig Zukunftsperspektiven für sich. Die Wahlbeteiligung ist niedrig, nach Westeuropa auszuwandern scheint oft eine verheißungsvolle Lösung. Besonders benachteiligt ist die Roma-Bevölkerung. In Kiseljak, einer Gemeinde im bosnischen Kanton Tuzla, gründet Vahid Beganović, unterstützt von der Bürgerstiftung Tuzla, einen Roma-Jugendclub. Er sorgt dafür, dass die Jugendlichen Freizeitangebote erhalten und sich aktiv in die Gemeinschaft einbringen können - und entwickelt Führungskompetenz und Zukunftsambitionen für sich selbst.
Foto: Bürgerstiftung Tuzla
Das Empowerment der Jugendlichen war von Beginn an ein besonderes Anliegen der Bürgerstiftung Tuzla in Kiseljak, einer Gemeinde mit äußerst schwacher Infrastruktur und einem der landesweit höchsten Anteile der Roma-Minderheit. Freizeitaktivitäten für Heranwachsende außerhalb der Schule gab es bis dahin keine, Mitsprache- und Beteiligungsrechte hatten sie - weit verbreitet in Bosnien - kaum.

Als die Bürgerstiftung 2017 das erste "Leadership-Training" für Jugendliche initiierte, um ihnen Fähigkeiten für eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft und ein selbstbestimmtes Leben zu vermitteln, lag ein besonderer Fokus darauf, dass die Ausbildung gemeinsam von zwei Trainern - einer mit, einer ohne Romno-Hintergrund - geleitet werden würde. Jugendliche aus Roma-Familien sollten ebenso wie andere Jugendliche motiviert werden, gleichberechtigt an den Aktivitäten teilzunehmen.

Als Vahid, Rom und heute 26 Jahre alt, das Angebot erhielt, die Leitung für den Lehrgang zu übernehmen, musste er erst überzeugt werden. Er war zwar bereits zuvor in der Jugendarbeit tätig gewesen, sah sich aber nicht in einer Führungsrolle und zweifelte, dass er die Fähigkeiten dazu habe. Sabina Ćatibušić, Projektleiterin bei der Bürgerstiftung, erinnert sich an einen anfangs zurückhaltenden jungen Mann, in dem sie aber früh ein gewisses Potenzial sah. Vahid sagte schließlich zu - weil er auf der Suche nach einer Stelle war und die Herausforderung annehmen wollte, wie er selbst sagt.

Der erste Roma-Jugendclub Bosniens

Das Training wurde ein voller Erfolg. Vahid konnte die Jugendlichen für sich gewinnen, wurde von der ganzen Gruppe - Roma wie Nicht-Roma - gehört und respektiert, war bald ein Vorbild für sie. Die drei Monate waren schnell vorbei, das Training zu Ende - aber es gab noch viel zu tun. Voller Energie und Tatendrang entschlossen sich Vahid und rund 20 weitere Jugendliche, unterstützt von der Bürgerstiftung, einen Jugendclub zu gründen, der allen Jugendlichen offenstehen, aber besonders das Empowerment von Roma in den Blick nehmen sollte. Der Klub mladih Roma Kiseljak war geboren - der erste Roma-Jugendclub überhaupt in Bosnien, mit Vahid als Präsidenten.

"Der Roma-Jugendclub ist vor allem ein geschützter Raum für die Jugendlichen, damit sie nach der Schule nicht auf der Straße herumhängen und wo sie Fähigkeiten für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe erlangen", sagt Vahid. Sie werden angehört anstatt kritisiert wie oftmals in Schule oder Elternhaus und schaffen gemeinsam Freizeitangebote, die sie sich selbst wünschen – zum Beispiel eine Kino-Nacht oder ein Barbecue. Gleichzeitig setzen sich die Jugendlichen für ein vorurteilsfreies Zusammenleben und eine positive Wahrnehmung der Kultur der Roma ein. So veranstaltete der Club am Welt-Roma-Tag ein Fußball-Turnier gegen Diskriminierung und Rassismus und organisierte am Georgstag im Mai, einem wichtigen Feiertag der Roma, eine große öffentliche Veranstaltung in Kiseljak. Außerdem sehen sich die Mitglieder des Clubs in einer Mediator*innen-Rolle für die weniger integrierten Roma-Familien der Gemeinde und beraten sie zum Beispiel in schulischen Belangen. Kisejaks Roma-Bevölkerung ist sehr heterogen. Während ein Teil - wie auch Vahids Familie - bereits seit langem vor Ort ansässig und beruflich und sozial oft gut eingebunden ist, leben vor allem viele der später angesiedelten Roma-Familien in großer Armut.

Neue Rolle, neue Ziele

Auch auf Vahids persönliches Leben hat sich seine neue Führungsrolle und die Arbeit mit dem Club ausgewirkt. Er lernte nicht nur professionelle Projektanträge zu verfassen, in Versammlungen gut zu kommunizieren und keine Scheu davor zu haben, mit Autoritätspersonen wie dem Bürgermeister zu verhandeln, sondern hat sogar ein College-Studium in Wirtschaft und Management aufgenommen. Sein Wille, sich noch weiter zu qualifizieren, um sich in der Gesellschaft wirklich gleichberechtigt zu fühlen und etwas bewegen zu können, war geweckt geworden und er hatte sich mit Erfolg um ein Stipendium des Roma Education Fund beworben. Auch seine Frau, die selbst bereits als Roma-Mediatorin arbeitete, hat ein Studium begonnen. Die beiden haben sehr jung, noch vor Vahids Schulabschluss, geheiratet und sind mittlerweile Eltern zweier kleiner Töchter. Ihr Beispiel zeigt, dass sich Traditionen der Roma wie eine frühe Familiengründung und ehrgeizige Bildungsambitionen mitnichten ausschließen müssen.

Der Roma-Jugendclub bedeutet viel Arbeit – ehrenamtliche Arbeit. Der Club ist inzwischen Mitglied im neu gegründeten landesweiten Roma-Jugendrat und damit weit über Kiseljak hinaus vernetzt. Vahids Motivation und Überzeugung, dass der Club viel bewegen kann, ist ungebrochen, auch fühlt er sich in der Verantwortung für "seine" Jugendlichen. Gleichzeitig muss für ihn ein sicheres Einkommen für seine Familie jetzt oberste Priorität haben. Den Club so etablieren zu können, dass er ihm eine feste Stelle ermöglicht und er beides vereinbaren kann, ist nun sein großer Wunsch.


Die Freudenberg Stiftung unterstützt die Gemeindeentwicklung in Tuzla seit 1999 und hat das Engagement für und mit Roma in Kiseljak 2016 als einen Schwerpunkt der Zusammenarbeit initiiert.