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10.04.2019
Wem gehört die Schule? Ein Gespräch über Bildung und Zusammenhalt in der Stadt mit Marcel Helbig
Die soziale Architektur deutscher Städte – insbesondere die Ostdeutschlands – ist brüchig. Eine wachsende Armutssegregation zementiert sich immer mehr bereits in den Grundschulen. Treibende Kräfte sind ein Rückzug der öffentlichen Schule und ein gleichzeitiger Boom von Privatschulen. Was sind die Folgen solcher abgehängten Stadtviertel und Schulen? Was können Politik, Praxis und Zivilgesellschaft für mehr Bildungsgerechtigkeit tun? Die Freudenberg Stiftung lud im Rahmen der Berliner Stiftungswoche am 10. April 2019 zum Gespräch mit dem Bildungs- und Sozialforscher Prof. Dr. Marcel Helbig.
Foto: Freudenberg Stiftung
Die zunehmende soziale Entmischung unserer Schulen ist ein großes Problem, zeigt die Forschung von Marcel Helbig, Professor für Bildung und soziale Ungleichheit an der Universität Erfurt und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Während Schule in Deutschland traditionell eine vertikale Spaltung vornimmt, also Schüler*innen auf Gymnasien, Haupt- und Realschulen und später Hochschulen verteilt, und sich dies – zumindest idealtypisch – meritokratisch mit dem Leistungsprinzip rechtfertigt, lässt sich immer stärker auch eine horizontale Spaltung an den Grundschulen beobachten – jenen Schulen also, die eigentlich für alle da sein sollten (vgl. Helbig 2018). Diese hat nichts mit Leistung zu tun, umso mehr aber mit Armut und Herkunft.
Die Ungleichverteilung des Anteils lernmittelbefreiter Schüler*innen ist in vielen Städten enorm: In Berlin zum Beispiel sind an etwa 36 % der öffentlichen Grundschulen über 50 % der Schüler*innen von Sozialleistungen abhängig. Ihre Eltern sind – ein sicherer Indikator für Armut – von der Zuzahlungspflicht für Lernmittel befreit. In gut 12 % der öffentlichen Grundschulen sind es sogar 70 % – an etwa ebenso vielen Schulen liegt ihr Anteil jedoch unter 10 %. Auch andere Lernvoraussetzungen wie der Sprachstand der Kinder bei ihrer Einschulung hängen eng mit der sozialräumlichen Lage zusammen. Hierfür, und dies ist Prof. Dr. Marcel Helbig wichtig zu betonen, ist nicht nur Migration verantwortlich: Auch Armut führt zu Sprachproblemen. Ebenso nehmen, bislang wenig thematisiert, Verhaltensauffälligkeiten an Schulen in armen Gebieten zu, die z. B. von Gewalterfahrungen oder schwierigen familiären Verhältnissen herrühren.
Schere zwischen Ost und West
Der Vergleich der sozialen Segregation, gemessen an der Verteilung der SGB II Empfänger, bringt drastische Unterschiede zwischen west- und ostdeutschen Städten zutage: Während sich in Westdeutschland der Segregationsindex seit Anfang der 2000er Jahre auf einem relativ stabilen Niveau hält, zeigt sich für die Städte Ostdeutschlands ein rasanter Anstieg innerhalb der letzten zehn Jahre. Familien mit Kindern sind besonders stark betroffen: Sie sind, z. B. bei der Wohnungssuche, noch stärker den herrschenden Marktkräften ausgeliefert, während sich auf der anderen Seite Familien mit Kindern und den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten erst recht in gut situierten Wohngebieten niederlassen. Je größer die Armut in einem Stadtgebiet, desto stärker wird die soziale Segregation. Alle diese Entwicklungen treffen ostdeutsche Städte in weitaus größerem Ausmaß und in einer exponentiellen, anstatt in einer vergleichsweise sanften Entwicklung, wie sie in Westdeutschland überwiegt. Zurückzuführen sind diese Problemlagen zum einen auf einen hohen Wohnungsleerstand, der es überhaupt erst ermöglicht, eine große Anzahl von Sozialhilfeempfänger*innen und neu Zugewanderten im gleichen Gebiet unterzubringen, und zum anderen auf zu geringe Steuereinnahmen, die Kommunen einen gewissen Handlungsspielraum für alternative Wohnraumkonzepte ermöglichen würden. Helbig erwartet in den kommenden Jahren sogar eine Verschärfung der Situation, u. a. durch einen immer eklatanteren Lehrer*innenmangel. Auch die aktuell hochkochenden Diskussionen um bezahlbaren Wohnraum werden die Armutssegregation bundesweit eher befördern.
Privatschulen als Beschleuniger sozialer Bildungsungleichheit
Welche Rolle spielen Privatschulen bei dieser ungünstigen Konzentration von Armut an vielen Schulen? Laut Grundgesetz (Art. 7, Abs. 4) dürfen Privatschulen nicht zu einer "Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern" beitragen. Diese Verpflichtung greift aber bei weitem nicht. Der auffallend hohe Anteil von Eltern mit Hochschulabschluss an Privatschulen spricht für sich. Helbig nennt dazu Zahlen aus einem Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (Görlitz et al. 2018): In Ostdeutschland besuchen gut 23 % der Kinder aus Akademikerhaushalten Privatschulen und unter 5 % von Eltern ohne Berufsabschluss. In Westdeutschland geht die Schere der Privatschulnutzung etwas weniger weit auf. Hier bewegt sich das Verhältnis bei knapp 17 % zu 6 %. Ähnlich verhält es sich mit dem Schulbesuch von Kindern aus Familien, die von staatlichen Transferleistungen leben. Während ihr Anteil in allen ostdeutschen Privatschulen bei 4,9 % gegenüber 19,6 % in öffentlichen Schulen liegt, sind es in Westdeutschland 7,8 % zu 10,7 %.
Bei alldem führen Privatschulen mitnichten zu einer besseren Schulabdeckung: Sie finden sich, gemäß einer nachvollziehbaren marktwirtschaftlichen Logik, insbesondere in Städten mit hoher Akademikerdichte und bevorzugten Wohnlagen, wo öffentliche Schulen bereits in ausreichendem Maße vorhanden sind. Und obwohl sie die "einfachste" Schüler*innenschaft und infrastrukturell besten Voraussetzungen haben, tragen Privatschulen erwiesenermaßen in keiner Weise zu einem Kompetenzzuwachs bei.
Die "beste" Schule für die "schwierigsten" Schüler*innen!?
Die Lösung liegt nahe: Für die "schwierigsten" Schüler*innen müssten die "besten" Bedingungen geschaffen werden. Weit gefehlt in der Realität: Vergleicht man die Unterrichtsabdeckung, den Anteil der Quereinsteiger*innen unter den Lehrkräften oder auch die Umsetzung pädagogisch erprobter Ansätze wie eine starke Individualisierung des Unterrichts, zeigt sich, dass diese Qualitätsmerkmale mit zunehmender Quote der Befreiung der Zuzahlungspflicht bei Lernmitteln an öffentlichen Schulen immer ungünstiger werden und dass sich erst in ganz alarmierenden Fällen, wie vor einigen Jahren an der damaligen Rütli-Schule in Berlin, die Tendenz wieder umkehrt. "Schulpreisschulen" sucht man in schwierigen Lagen vergebens. Höchste Zeit also, die Bildungspolitik wachzurütteln und eine konsequente bedarfsgerechte Mittelzuweisung an Schulen durchsetzen, appelliert Helbig.
Ab einer bestimmten Ballung armer Kinder, so Helbig, stoßen jedoch auch pädagogische Interventionen an ihre Grenzen. Oder es helfen nur noch solche Ansätze, die so teuer sind, dass sie sich bestenfalls reiche Kommunen leisten können. Hamburg zum Beispiel hat die maximale Klassengröße in Grundschulen, die von sozial am schwächsten gestellten Schüler*innen besucht werden, von 23 Kindern auf 19 reduziert. Fest steht: Schule kann nicht allein die gesellschaftlichen Probleme lösen, die zur Entstehung von "Brennpunktschulen" geführt haben.
Armut und Schule stärker diskutieren
Helbigs Vortrag traf auf offene Ohren im Publikum, darunter viele selbst mit pädagogischem Hintergrund und eigenen Erfahrungen mit Schulen in kritischen Lagen. Der Diskussionsbedarf ist groß, zeigte sich, und das Thema kontrovers. Welche Rolle kann Schule und Pädagogik bei den beschriebenen Problemen spielen und was ist überhaupt die "richtige" Pädagogik? Ist soziale Mischung zwangsläufig der Schlüssel für Schulen mit großen sozialen Problemen und wenn ja, wie bringt man die Mittelschicht in die betroffenen Gebiete zurück? Auch wenn Schule allein nicht eine fehlende soziale Inklusion ausgleichen kann, so können Schulen auch mit hohen Segregationseffekten einzelnen Kindern gute Perspektiven eröffnen und müssen nicht warten, bis sich die Verhältnisse ändern, so der Tenor im Publikum. Hier ergeben sich auch Handlungsansätze für Stiftungen, die, wie Helbig kritisiert, sich bislang zumeist nur punktuell um die "ganz schlimmen" Schulen kümmern und sich zu wenig untereinander abstimmen, um flächenwirksame Verbesserungen erreichen zu können. Bildungsnetzwerke wie im Programm
Ein Quadratkilometer Bildung können zum Beispiel eine zentrale Rolle spielen als Unterstützungssysteme für solche Schulen. Darüber hinaus ist es wichtig, eine geeignete Sprache zu finden, um die Probleme zu benennen, ohne die betroffenen Stadtviertel und Personengruppen weiter zu stigmatisieren. Wie sinnvoll ist es zum Beispiel, von "Brennpunktschulen" zu sprechen? Zeit also, neben dem schon viel länger und intensiver diskutierten Themenkomplex Schule und Zuwanderung eine gesellschaftliche Debatte über das Dreieck Armut-Schule-Ostdeutschland zu führen.
Mehr zum Thema: Görlitz et al. 2018.
"Fast jedes zehnte Kind geht auf eine Privatschule: Nutzung hängt insbesondere in Ostdeutschland zunehmend vom Einkommen der Eltern ab". DIW-Wochenbericht 85 (51/52)