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12. November

Kritik rassistischer Praktiken: Jahrestagung des Rat für Migration

Die Jahrestagung des Rat für Migration (RfM) am 12. und 13. November 2020 nahm rassistische Praktiken in den vier Feldern Wissenschaft, Schule, Polizei und Recht in den Fokus. Die Goethe-Universität Frankfurt war mit Blick auf die jüngsten
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12.11.2020

Kritik rassistischer Praktiken: Jahrestagung des Rat für Migration

Die Jahrestagung des Rat für Migration (RfM) am 12. und 13. November 2020 nahm rassistische Praktiken in den vier Feldern Wissenschaft, Schule, Polizei und Recht in den Fokus. Die Goethe-Universität Frankfurt war mit Blick auf die jüngsten rassistischen Gewalttaten in Hessen als Tagungsort der hybriden Veranstaltung nicht zufällig gewählt. Deutlich wurde aber vor allem, dass es nicht um Einzeltaten oder Einstellungen Einzelner geht, sondern um strukturellen Rassismus, der in Institutionen "geronnen" ist (Prof.'in Dr. Yasemin Karakaşoğlu).
In der weltweiten neuen Aufmerksamkeit für Rassismus, ausgelöst durch die Tötung George Floyds im Mai diesen Jahres und die anschließende transnationale Mobilisierung durch die Black Lives Matter-Bewegung, liegt ein großes Potenzial. Gerade um der Auseinandersetzung mit Rassismus mehr Einfluss und Gewicht zu ermöglichen, müssten hierfür auch Allianzen zwischen von unterschiedlichen Rassismen betroffenen Gruppen geschlossen werden, betonte Prof.'in Dr. Maisha Auma. Ansonsten setze man sich gegenseitig "schachmatt" oder verfalle in konkurrierende Identitätspolitiken, die letztlich genau die rassistischen Denkmuster, die eigentlich überwunden werden sollen, verstärken (Prof.em. Micha Brumlik).

Rassismus müsse also zwar im Plural, als "Rassismen", gedacht werden, um seiner Komplexität - den zeitlich-geografischen unterschiedlichen Formen, ihren Überlagerungen und ihrer Intersektionalität zu anderen Differenzlinien – gerecht zu werden, wie Prof. Dr. Paul Mecheril als einen weitgehenden Konsens der Tagung zusammenfasste. Gleichzeitig teilen sich Antiziganismus, Antisemitismus oder antimuslimischer Rassismus "Familienähnlichkeiten" in ihrer gemeinsamen Bezugnahme auf "Rasse" bzw. "race" als ein als unveränderlich konstruiertes Merkmal.

In Institutionen "geronnener" Rassismus

Mit empirischen Schlaglichtern aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen machten die Tagungsbeiträge rassistische Praktiken sichtbar und eröffneten neue Perspektiven für ihre mögliche Überwindung.

So ist z. B. die Schule in Deutschland in mehrfacher Hinsicht ein Ort der (Re-)Produktion rassistischer Zuschreibungen und Ausschlüsse. Die "nationale Verfasstheit" (Dr. des. Saphira Shure) der Schule ist tief in ihre Entstehungsgeschichte eingeschrieben und äußert sich u. a. durch das dort vermittelte Wissen wie das Fächerangebot und Lehrbuchdarstellungen, durch bestimmte normative Erwartungen wie ein monolingualer Habitus, aber auch auf der Interaktionsebene, etwa durch ungleiche Bewertungen von rassistisch markierten Schüler*innen (Prof.'in Dr. Juliane Karakyali). Die vielen blinden Flecke, die aktuell noch bezüglich rassistischer Praktiken im Bildungssystem herrschen, lassen sich nicht mit vereinzelten Workshops oder überholten Begegnungsformaten überwinden (Sabena Donath), sondern das System Schule müsse weiter gefasst zur Disposition gestellt werden (Prof. Dr. Harry Harun Behr) - mit Schritten wie neuen Schulfächern, dem Aufarbeiten eklatanter Wissenslücken z. B. mit Blick auf jüdisches Leben, einer stärkeren Selbstreflexivität und Analyse auch weniger zugänglicher, rahmengebender Räume des Bildungssystems wie der Verwaltung sowie klaren gemeinsamen Standards als Grundlage (Sabena Donath, Dr. des. Saphira Shure, Saraya Gomis).

Racial Profiling als Praxis der Polizei, bei der Menschen aufgrund bestimmter äußerer Merkmale ohne konkreten Anlass in den Fokus genommen werden, ist in Deutschland offiziell nicht zulässig. Dies deckt sich jedoch nicht mit den tatsächlichen Erfahrungen von People of Color und Schwarzen Menschen. Die Art und Häufigkeit des Racial Profilings variieren zwar unter den Personengruppen und wirken u. a. stark mit anderen Diskriminierungslinien wie Geschlecht und Armut zusammen, überindividuell hat diese Praxis jedoch gravierende, langanhaltende physische und psychische Auswirkungen auf die Betroffenen, die weit über die Situation der Kontrolle hinausgehen, wie eine partizipative Studie der Forschungsgruppe Racial Profiling am Beispiel der Schweiz zeigte. Von den Polizeibehörden selbst wird das Vorkommen von Racial Profiling zumeist entweder geleugnet oder als rein subjektive Wahrnehmung der Betroffenen abgetan (Dr. Franziska Schutzbach).

Im Rechtswesen wird aktuell die Streichung des Begriffs "Rasse" aus dem deutschen Grundgesetz diskutiert. Eine solche ist nicht unumstritten, da sie einen "Color-Blind-Rassismus" befördern und verhindern könne, rassistische Diskriminierungen einklagbar zu machen (Prof. Dr. Vassilis Tsianos). Eine Ersetzung des Begriffs durch den der "rassistischen Zuschreibung" hingegen würde ermöglichen, Rassismuskritik in das bislang rassismusblinde Rechtswesen einzuspeisen und von einer biologistischen Perspektive abzurücken, die die Ursache rassistischer Diskriminierung in den Betroffenen selbst verortet (Doris Liebscher).

Rasse ist keine fixe Kategorie, sondern ein "floating signifier", so Prof'in Dr. Manuela Bojadzijev nach Stuart Hall. Durch ebendiese Uneindeutigkeit und Veränderbarkeit könne Rassismus aber auch transformiert und überwunden werden und neue Formen von Universalismus gestärkt. Auch aus einer historischen Perspektive lässt sich dies untermauern: Es gab eine Menschheitsgeschichte vor dem Rassismus – folglich lässt er sich auch bezwingen (Dr. Maria Alexopoulou).


Der Rat für Migration wird das Thema Rassismus auch in seiner nächsten Jahrestagung weiterverfolgen. Die Freudenberg Stiftung unterstützt den Rat für Migration seit seiner Gründung 1998. Der Rat für Migration ist Träger des Mediendienst Integration, einer Informations-Plattform für Medienschaffende zu den Themen Migration, Integration und Asyl in Deutschland.

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