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03. März

Krieg in der Ukraine: Wohin fliehen die Menschen?

Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar sind schon jetzt über eine Million Menschen in die angrenzenden Länder geflohen, hinzu kommen fast ebenso viele Binnengeflüchtete. In einem Pressegespräch des Mediendienstes
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03.03.2022

Krieg in der Ukraine: Wohin fliehen die Menschen?

Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar sind schon jetzt über eine Million Menschen in die angrenzenden Länder geflohen, hinzu kommen fast ebenso viele Binnengeflüchtete. In einem Pressegespräch des Mediendienstes Integration am 03. März äußerten sich Chris Melzer (UNHCR), Andrea Najvirtová ("People in Need"), Dr. Franck Düvell (IMIS/Universität Osnabrück) und Marta Kozłowska (MIDEM/TU Dresden) zur aktuellen Situation in den Grenzgebieten und möglichen weiteren Entwicklungen.
"Krieg bringt das Beste und das Schlechteste in den Menschen zum Vorschein", resümiert Chris Melzer, der sich derzeit für den UNHCR an der ukrainisch-polnischen Grenze aufhält, seine Erfahrungen in der vergangenen Woche. Die Solidarität der polnischen Bevölkerung sei überwältigend. Viele bringen die Geflüchteten mit ihren Autos über weite Strecken zu deren Zielort oder spenden große Mengen an hochwertigen, neu gekauften Sachgütern.

Da ukrainische Männer das Land nicht verlassen dürfen, seien es hauptsächlich Frauen mit Kindern, die ankommen, körperlich zumeist weitgehend unversehrt, aber unter hoher psychischer Belastung. Aufgrund der großen ukrainischen Diaspora in Polen haben viele die Möglichkeit, privat unterzukommen. Auch die Kapazitäten der polnischen Aufnahmeeinrichtungen sind derzeit noch nicht voll ausgelastet und die Versorgung mit Nahrung, Hygieneartikeln und Medikamenten zumindest aktuell ausreichend.

"Die polnische Regierung hat nicht versagt", bestätigt auch Marta Kozłowska (TU Dresden). Vorbereitungen auf mögliche Fluchtbewegungen wurden bereits vor Kriegsausbruch getroffen, u. a. der visumsfreie Aufenthalt für Ukrainer*innen schnell auf sechs Monate verlängert und die Einreise mit Haustieren ermöglicht. Polen betrachtet die Ukrainer*innen als ihr "Brudervolk", 93 % der Bevölkerung sprachen sich in einer aktuellen Umfrage für deren Unterstützung aus. Zugute kommt der (derzeit) positiven Stimmung gegenüber den ukrainischen Geflüchteten - in Polen wie in der Slowakei - auch der aufnahmefähige Arbeitsmarkt der beiden Anrainerstaaten und die relativ geringen Sprachbarrieren.

Umgang mit Drittstaatler*innen

Entgegen anderslautenden Gerüchten gibt es nach Erkenntnissen des UNHCR bislang auch keine Anzeichen für Zurückweisungen von Drittstaatler*innen an der polnischen Grenze. Die Ukraine ist ein beliebtes Studienziel für junge Menschen insbesondere aus afrikanischen Ländern. Hinzu kommen Arbeitsmigrant*innen, Geflüchtete hingegen leben in der Ukraine nur sehr wenige.

Aus dem slowakischen Grenzgebiet, wo in den vergangenen Tagen bis zu einem Drittel der Geflüchteten Drittstaatler*innen waren, berichtet Andrea Najvirtová von rechtsnationalen Politiker*innen, die sich diese Situation umgehend für rassistische Stimmungsmache zunutze gemacht haben. Auch in der Bevölkerung sei die Solidarität mit den Ukrainer*innen zwar groß, gegenüber den anderen lasse sich aber eine wachsende Ausländerfeindlichkeit wahrnehmen.

So aufnahmefreudig sich Polen gerade an der ukrainischen Grenze zeigt, so schlimm ist die Situation weiterhin an der polnisch-belarussischen Grenze, wo Push-backs stattfinden und sich die Versorgungslage dramatisch verschlechtert hat. Aktivist*innen raten den Geflüchteten dort aktuell, sich möglichst bis zur polnisch-ukrainischen Grenze durchzuschlagen, wo im Moment niemand zurückgewiesen wird.

Welcher Schutz in der EU?

In diesen Tagen beobachten die Expert*innen ein erstes Abflachen der Fluchtbewegung aus der Ukraine, halten aber durchaus einen erneuten Anstieg für wahrscheinlich. Der UNHCR schätzt, dass rund 70 % der ukrainischen Geflüchteten in den Erstaufnahmeländern verbleiben und etwa 30 % in andere Länder - meist aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen - weiterwandern wollen.

Noch heute wird die EU über die Aktivierung der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie entscheiden, die Kriegsflüchtlingen ohne aufwändiges Asylverfahren vorübergehend Schutz garantiert. Dabei müssten gerade auch geflüchtete Drittstaatler*innen aus der Ukraine, die nicht in ihre Herkunftsländer zurück können, mit bedacht und ausländischen Arbeitsmigrant*innen zumindest für eine Übergangszeit ein Schutzstatus zuerkannt werden, fordert Migrationsforscher Dr. Franck Düvell.

Für diejenigen, die den Geflüchteten privat helfen möchten, gilt laut Chris Melzer für den UNHCR: Geldspenden sind am sinnvollsten und unterstützen die in der Ukraine unterfinanzierte Organisation, ihre wichtige Arbeit vor Ort professionell zu leisten.



Die Freudenberg Stiftung unterstützt den Mediendienst Integration, eine Informations-Plattform für Medienschaffende zu den Themen Migration, Integration und Asyl in Deutschland, seit seiner Gründung im Jahr 2012. Träger des Mediendiensts ist der Rat für Migration (RfM), der ebenso von der Freudenberg Stiftung gefördert wird.