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06. Dezember

Wie kommen ukrainische Schüler*innen an Schulen an? Pressegespräch des Mediendienst Integration

Über 200.000 ukrainische Schüler*innen wurden inzwischen an deutschen Schulen aufgenommen. In einer Recherche hat der Mediendienst Integration untersucht, wie sich ihr
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06.12.2022

Wie kommen ukrainische Schüler*innen an Schulen an? Pressegespräch des Mediendienst Integration

Über 200.000 ukrainische Schüler*innen wurden inzwischen an deutschen Schulen aufgenommen. In einer Recherche hat der Mediendienst Integration untersucht, wie sich ihr Ankommen im deutschen Schulsystem gestaltet. Welche Herausforderungen und Probleme zeigen sich, was läuft gut? Diese Fragen diskutierte der Mediendienst im Rahmen eines Online-Pressegesprächs mit Prof. Dr. Juliane Karakayali (Ev. Hochschule Berlin), Dr. Natalia Roesler (Bundeselternnetzwerk bbt, Club Dialog e. V.) und der Bildungsministerin in Schleswig-Holstein und Präsidentin der Kultusministerkonferenz Karin Prien.
Die Recherche des Mediendiensts zeichnet ein gemischtes Bild: Zwar geben einige Bundesländer an, dass die Aufnahme der ukrainischen Schüler*innen weitgehend reibungslos funktioniere, deutschlandweit aber zeigen sich auch große Probleme und Herausforderungen.

Der Lehrer*innen- und Raummangel ist länderübergreifend gravierend. Aufgrund fehlender Kapazitäten können ukrainische Schüler*innen vielerorts trotz Schulpflicht noch keine Schule besuchen. Willkommensklassen sind die Regel, obwohl aktuelle Studien (z. B. RWI 2022) belegen, dass sich der Bildungserfolg von geflüchteten Kindern deutlich verschlechtert, wenn sie separat beschult werden. Viele der Schüler*innen - bereits psychisch durch den Krieg stark belastet - nehmen nachmittags zusätzlich noch am ukrainischen Unterricht teil und haben somit ein hohes Pensum zu bewältigen.

Glas halb leer oder halb voll?

Bildungsministerin Karin Prien fällt ein positiveres Urteil und lobt die "großartige Integrationsleistung" des Schulsystems in diesem Jahr. Auch dank der Erfahrungen von 2015/16 sei die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten schnell und überwiegend gut gelungen. Manche Engpässe wie fehlende Lehrer*innen und Raumkapazitäten könne die Politik nicht ad hoc beheben, provisorische Lösungen und Abstriche bei Personalschlüssel und Infrastruktur müssten daher manchmal in Kauf genommen werden, so Prien.

Anders sieht dies Prof. Dr. Juliane Karakayali, die einen "bunten Flickenteppich" an Maßnahmen in den Bundesländern kritisiert. Wenig formalisierte separate "Willkommensklassen", eigentlich temporär gedacht, würden sich aus einem Mangel heraus oft verstetigen und eine Parallelstruktur zum Regelsystem bilden. Sonderformate für die Beschulung von nicht deutschsprachigen Schüler*innen seien nicht per se zu verdammen, sie müssten jedoch einen gleichberechtigten Teil des Regelsystems darstellen und auf einem klaren pädagogischen Konzept basieren.

Auch die Aufwertung der ukrainischen und anderer Herkunftssprachen als zeugnisrelevante Fächer sei längst noch nicht so flächendeckend erfolgt wie wünschenswert, so Prof. Dr. Karakayali.

Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse, angesichts des Fachkräftemangels branchenübergreifend in der Diskussion, spielt ebenso eine Rolle: Viele Schulen haben ukrainische Lehrer*innen zwar als Lernbegleiter*innen zu Unterstützung der geflüchteten Schüler*innen eingestellt, bis zur vollen Anerkennung als Lehrkraft müssen jedoch viele Hürden genommen werden.

Dr. Natalia Roesler lobt, dass trotz der anfänglichen Debatte die Schulpflicht für ukrainische Schüler*innen in Deutschland nicht ausgesetzt wurde: Mittlerweile wolle etwa die Hälfte der geflüchteten Ukrainer*innen längerfristig in Deutschland bleiben, ihr Wille und ihre Bereitschaft, sich in Schule und Gesellschaft einzubringen, wachse entsprechend. Sie plädiert vor allem dafür, Unterstützungsstrukturen für Eltern auszubauen, also Programme wie Elternlots*innen oder Patenschaften, um ihnen die Orientierung in dem neuen – bundesweit fragmentierten – Schulsystem zu erleichtern.

Ist das Glas nun halb voll oder halb leer? Eine Frage der Perspektive. Aber dass angesichts einer abzusehenden Zunahme geflüchteter und migrierter Kinder und Jugendlicher in ein zeitgemäßes Bildungssystem für die Einwanderungsgesellschaft investiert werden muss, hat das Jahr 2022 deutlich gezeigt.



Die Freudenberg Stiftung unterstützt den Mediendienst Integration seit seiner Gründung im Jahr 2012. Auch der Rat für Migration (RfM), Träger des Mediendiensts, wird von der Freudenberg Stiftung gefördert.