Mediendienst Integration: Arabisch-türkische Großfamilien und "Clankriminalität"
"Clankriminalität" ist ein beliebtes Schlagwort in politischen und medialen Debatten, zuletzt wieder in Zusammenhang mit den Ausschreitungen an Silvester 2022/23. Diese
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25.01.2023
Mediendienst Integration: Arabisch-türkische Großfamilien und "Clankriminalität"
"Clankriminalität" ist ein beliebtes Schlagwort in politischen und medialen Debatten, zuletzt wieder in Zusammenhang mit den Ausschreitungen an Silvester 2022/23. Diese Diskurse sind nicht nur diskriminierend, sondern beschreiben wenig zutreffend die tatsächlich hinter der Kriminalität stehenden Strukturen. Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba forscht seit mehreren Jahren zu arabisch-türkischen bzw. kurdischen Großfamilien. Für den Mediendienst Integration hat er eine Expertise zum Thema erstellt und präsentierte die zentralen Ergebnisse in einem digitalen Hintergrundgespräch für Journalist*innen am 25.01.2023.
Wer "Remmo" heißt, hat es in Berlin schwer, eine Wohnung zu finden, weiß Politikwissenschaftler Dr. Mahmoud Jaraba. Jaraba arbeitet seit mehreren Jahren zu arabisch-türkischen bzw. kurdischen Großfamilien und dem Phänomen der sogenannten Clan-Kriminalität. Er kennt die Familien "von innen" und hat in einer langfristigen Feldforschung die Strukturen und Verhältnisse solcher Großfamilien erforscht.Seine Ergebnisse zeigen, wie irreführend das Narrativ der vermeintlichen "Clankriminalität" ist. Denn die ursprünglich nahen Verwandtschaftsverhältnisse haben sich längst ausdifferenziert. Weder kennen sich die meisten Familienmitglieder untereinander noch gibt es eine zentrale Führungsperson, die alles zusammenhält. Kriminalität - Drogenhandel, Erpressung, Menschenhandel - findet nicht innerhalb der Großfamilien statt, sondern innerhalb von "Sub-Sub-Clans" (arab. "bayt"). Innerhalb dieser Untergruppen gibt es einerseits eine starke interne Solidarität, andererseits sind sie bestens vernetzt im In- und Ausland.Diskriminierung und Ausgrenzung im Alltag, in der Schule, auf dem Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnungsmarkt sowie durch die Polizei erfährt hingegen die große Mehrheit der Familienmitglieder, die nicht kriminell ist. Während die kriminellen Sub-Sub-Clans ihre berüchtigten Nachnamen oft bewusst aktiv für ihre Machenschaften einsetzen und die mediale Aufmerksamkeit genießen, legen manche Familienmitglieder als letzten Ausweg der Abgrenzung ihren Nachnamen ab.Zusätzlich benachteiligend wirkt sich ein über Generationen weitergegebener Bildungsmangel innerhalb der Großfamilien aus, der auf eine historische Diskriminierung bereits in den Herkunftsländern zurückreicht und auch in Zusammenhang mit prekären Aufenthaltstiteln in Deutschland über Jahrzehnte hinweg steht: Bis heute verfügen nur wenige Familienmitglieder über einen Schulabschluss.Viele Familienmitglieder sind oft hohem Druck seitens der kriminellen Sub-Sub-Clans ausgesetzt. Sagen sie vor Gericht nicht aus, ist dies weniger Zeichen einer tiefsitzenden Familiensolidarität als von Angst und Einschüchterung. Hinzu kommt fehlendes Vertrauen in Staat und Polizei, von denen sie sich vorverurteilt fühlen. Sie würden ein hartes Vorgehen gegen die kriminellen Familienteile aber begrüßen, zeigt Jarabas Forschung.Mehr Differenzierung von Medien und Polizei
Mahmoud Jaraba wünscht sich vor allem mehr Differenzierung in den medialen Debatten: Über die kriminellen Machenschaften der Sub-Sub-Clans müsse konsequent berichtet, aber auch allen anderen Familienmitgliedern eine Stimme gegeben werden. Anstelle des Begriffs "Clankriminalität" hält er den der "familienbasierten Kriminalität" für treffender.Auch die Polizei und andere staatliche Institutionen müssten denjenigen Familienmitgliedern, die selbst unter der Kriminalität ihrer Angehörigen leiden, eine "Tür öffnen" und eine umfangreiche Präventionsarbeit, gerade auch mit Frauen, leisten. Voraussetzung dafür, dass eine solche fruchten kann, sei aber eine starke Strafverfolgung und Repression der kriminellen Familienteile, um diese nachhaltig zu schwächen.Zur Expertise hierDie Freudenberg Stiftung unterstützt den Mediendienst Integration seit seiner Gründung im Jahr 2012 institutionell. Auch der Rat für Migration (RfM), Träger des Mediendiensts, wird von der Freudenberg Stiftung gefördert.