GESCHICHTEN ZWISCHEN SCHICKSAL UND SEHNSUCHT – FILM UND ERZÄHLCAFÉ
Wer geht, wer bleibt? Als die Bundesrepublik in den 1950er Jahren begann, Arbeitskräfte aus Italien, der Türkei und weiteren Nationen anzuwerben, stellten sich in diesen Ländern viele Menschen diese Frage. So auch in der Familie der jungen
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13.07.2023
GESCHICHTEN ZWISCHEN SCHICKSAL UND SEHNSUCHT – FILM UND ERZÄHLCAFÉ
Wer geht, wer bleibt? Als die Bundesrepublik in den 1950er Jahren begann, Arbeitskräfte aus Italien, der Türkei und weiteren Nationen anzuwerben, stellten sich in diesen Ländern viele Menschen diese Frage. So auch in der Familie der jungen Filmemacherin Merve Uslu-Ersoy, die in ihrem Dokumentarfilm „Kismet“ der Geschichte ihrer beiden türkischen Großväter nachgeht. Das COMMUNITYartCENTERmannheim zeigte am 13. Juli ihren berührenden Film und ermöglichte dem Publikum in einem Erzählcafé, weiteren vielfältigen und emotionalen Familiengeschichten der Arbeitsmigration nachzuspüren. Eingebettet war die äußerst gut besuchte Veranstaltung in die aktuelle Ausstellung „Kofferkind“ von Fatma Biber-Born.
In der Ausstellung setzt sich die Künstlerin mit dem Schicksal der zahlreichen Kinder auseinander, deren Eltern als türkische Gastarbeiter*innen nach Deutschland gingen. Bei Verwandten oder Bekannten untergebracht, sahen diese Kinder ihre Eltern teilweise nur in den Ferien, wenn ihre Eltern sie besuchten oder für ein paar Wochen nach Deutschland holten. Mit Zeichnungen aus Tusche und Aquarell sowie Originalzitaten aus Interviews macht die Ausstellung das Schicksal, die Einsamkeit und die Sehnsüchte dieser Kinder eindrucksvoll sichtbar.Unter der Moderation von Angelika Staudt kamen im Erzählcafé am 13. Juli unterschiedliche Menschen zu Wort, deren Familie aufgrund von Arbeitsmigration teilweise über mehrere tausend Kilometer verstreut ist. Serap O. berichtete von ihrer Kindheit als „Kofferkind“: Während ihre Eltern als Gastarbeiter*innen in Deutschland arbeiteten, lebte sie mal bei ihnen, mal bei Verwandten in der Türkei – wie viele andere Kinder von Gastarbeiter*innen musste auch sie immer wieder ihre Koffer packen. Eindrucksvoll erzählte sie vom ständigen Gefühl des Vermissens und Nicht-Ankommens, aber auch von ihrem späteren Leben und der Liebe zu ihren drei eigenen Kindern, die sie in Deutschland größtenteils ohne Unterstützung alleine großzog.
Wie sehr die Gastarbeiterbewegung das Leben vieler Familien bis heute prägt, machten auch der gezeigte Dokumentarfilm „Kismet“ von Merve Uslu- Ersoy und das anschließende Gespräch mit ihr und ihrer Familie eindrucksvoll deutlich. Im Kurzfilm nimmt die junge Filmemacherin und „Gastarbeiterenkelin“ die Zuschauenden mit auf eine bewegende Reise in den Süden der Türkei, von wo aus ihre Großväter vor über fünfzig Jahren zum Arbeiten nach Deutschland aufbrachen. Auf sehr berührende Weise, und doch mit einer Portion Heiterkeit beleuchtet der Film, was dieser Schritt bis heute für die familiären und freundschaftlichen Beziehungen bedeutete.
Auch die lebendigen Schilderungen der Heidelberger Mutter Ritupana B. und ihrer 14-jährigen Tochter, die vor sieben Jahren aus Indien nach Deutschland zogen und im Erzählcafé von dieser Erfahrung berichteten, drehten sich um dieses Thema. Sehnsucht, Entfremdung, die Begeisterung über das Neue – auch aus ihren Erzählungen sprachen die vielfältigen Emotionen, die mit der Frage des Gehens oder Bleibens verbunden sind.
Die Ausstellung „Kofferkind“ wird in Kooperation mit Kultur Quer QuerKultur Rhein-Neckar e.V. durchgeführt und kann noch bis zum 7. September im COMMUNITYartCENTERmannheim in der Mannheimer Neckarstadt besucht werden. Mehr Infos hier.
Der Kurzfilm „Kismet“ von Merve Uslu-Ersoy (27min, Mannheim/Antakya, 2020) ist derzeit kostenlos auf Youtube verfügbar.
Die Freudenberg Stiftung unterstützt das COMMUNITYartCENTERmannheim zusammen mit der Stadt Mannheim, der Heinrich-Vetter-Stiftung, der BT Spickschen Stiftung, den Open Society Foundations und weiteren Förderpartnern.