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27 November

Sicheres Herkunftsland? 20 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges

Vor 20 Jahren endete mit dem Daytoner Vertrag der Bosnienkrieg. Der Krieg hatte das Leben von etwa 100.000 Menschen gefordert. Rund zwei Millionen wurden vertrieben. Bis heute gibt es keine wirkliche demokratische Verfassung in dem geteilten Land.
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27/11/2015

Sicheres Herkunftsland? 20 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges

Vor 20 Jahren endete mit dem Daytoner Vertrag der Bosnienkrieg. Der Krieg hatte das Leben von etwa 100.000 Menschen gefordert. Rund zwei Millionen wurden vertrieben. Bis heute gibt es keine wirkliche demokratische Verfassung in dem geteilten Land. 2014 erklärte Deutschland Bosnien-Herzegowina zu einem sogenannten sicheren Herkunftsland. Doch ist dort Frieden, Sicherheit und Zukunftshoffnung? Und: was hat das mit uns allen zu tun?
Mit Unterstützung der Freudenberg Stiftung lud der Beauftragte für Integration und Migration der Stadt Mannheim zusammen mit dem COMMUNITYartCENTERmannheim (CaCm) zum Auftakt einer Gesprächsreihe zum Stück "Was machen wir mit unserem TraumA? – 20 Jahre nach Ende des Bosnien-Krieges" ein.

Erster Gast der Reihe "Im Gespräch mit..." auf dem Podium war Erich Rathfelder, Autor und taz-Auslandskorrespondent für die Balkanstaaten. Mit ihm sprach Annette Dorothea Weber, künstlerische Leiterin des CaCm, über die Entstehung des Krieges und die aktuelle Situation im Land.

Vor dem Krieg habe niemand gewusst, zu welcher Gruppe der andere gehörte

"Brüderlichkeit und Einheit" (serbokroatisch: Bratstvo i jedinstvo) steht für das Leitbild, das dem jugoslawischen Befreiungskampf im Zweiten Weltkrieg sowie der späteren Gründung der Sozialistisch Föderativen Republik Jugoslawien zugrunde lag. Vor dem Krieg habe niemand gewusst, zu welcher Gruppe die Nachbarin oder der Ehepartner gehörte. "Bratstvo i jedinstvo ging tief in die Herzen hinein". Im Gespräch erläuterte Erich Rathfelder, wie dieses Leitbild unter Druck nationalistischer Bewegungen schon vor dem Krieg zunehmend bröckelte und schließlich auseinanderbrach.

Systematische Verhaftungen und ethnische Säuberungen durch serbische Truppen gingen im Krieg mit der Entstehung eines rechtsfreien Raums einher, in dem die Gräueltaten des Krieges überhaupt möglich wurden. Auch das Vorgehen der internationalen Gemeinschaft trug dazu bei. Die UN-Truppen, die damals ins Land geschickt wurden, sahen zu - nur auf Angriff auf sie selbst durften sie sich verteidigen.

"Die Situation ist heute schlechter als vor zehn Jahren"

Mit dem Daytoner Abkommen von 1995 wurden die Kriegshandlungen beendet. Der Bevölkerung wurde damit eine Verfasstheit aufoktroyiert, die sich an der ethnisch-nationalistischen Teilung orientiert, so Rathfelder. "Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in Europa eine nationalistische Bewegung, die nach dem Bosnienkrieg sogar ein eigenes Territorium erhielt".

Das Handeln der internationalen Gemeinschaft hat Auswirkungen bis heute. Heute sei die Situation schlechter als noch vor zehn Jahren, beschreibt Rathfelder die derzeitige Lage. In Bosnien und Herzegowina herrsche unter großen Teilen der Bevölkerung bittere Armut. Internationale Gelder kommen nicht bei den Menschen an, die immer weniger Perspektiven für sich sehen.

Zunehmend qualifizieren sich junge Menschen für medizinische oder Pflegeberufe - Mangelberufe in Deutschland. Diejenigen, die im Krieg nach Deutschland flohen, träumen zum Teil noch davon zurückzukehren. Sie haben ihre Häuser wieder aufgebaut und können doch nicht zurück. Auch hier in Deutschland, in Mannheim, hat der Krieg die jugoslawische Community tief gespalten. Immer noch ist - hier und dort - kaum Annäherung zwischen den Menschen möglich.

Im Gespräch mit Erich Rathfelder wurde deutlich, wie dringend notwendig die Aufarbeitung des Krieges sowohl in Bosnien-Herzegowina als auch in Deutschland ist, damit gemachte Fehler nicht wiederholt werden und eine Perspektive für die Menschen entsteht.

Zum Stück "Was machen wir mit unserem TraumA?"

Im Theater-Installations-Projekt "Was machen wir mit unserem TraumA?" steht die wahre Geschichte der aus Bosnien stammenden und heute in Mannheim lebenden Journalistin Ena Adamaralovic im Fokus. Das Trauma ihrer Kindheit begleitet Ena noch immer und steht stellvertretend für unzählige Kriegs- und Fluchtgeschichten von damals und heute. An der persönlich erzählten Geschichte greift das CaCm auch die Frage nach Verantwortung der deutschen Politik und Gesellschaft auf und geht ihr mit der Gesprächsreihe intensiver nach.

Fotos: COMMUNITYartCENTERmannheim - Jessica Uhrig