×
09/10/2016
Themenabend Flucht im COMMUNITYartCENTERmannheim
Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Was lernen wir aus der Asyl- und Integrationspolitik der 1990er Jahre für heute? Diese Fragen der künstlerischen Leiterin des COMMUNITYartCENTERmannheim (CaCm) Annette Dorothea Weber, standen im Mittelpunkt der dritten Veranstaltung des CaCm im Rahmen der Reihe “Gerücht oder Wahrheit?”
Die wiederkehrende gesellschaftliche Stimmung zwischen Abwehr und Bejahung von Deutschland als offene Gesellschaft für Einwandernde und Geflüchtete zeigt sich auch in den Gerüchten und Geschichten, die das Künstlerduo ILLIG & ILLIG 2016 mit der Installation GERÜCHTE-KÜCHE vorab gesammelt hat: "Die Albaner, die haben mal wieder eine Schießerei angefangen, wie so oft, das sind doch immer die, ich hab nichts gegen Ausländer, aber die, die Albaner, aber sonst ist es schön hier, nur die da nicht, das geht schon lange so."
Oder: "Wir hatten Nachbarn, Griechen, mit denen haben wir uns gut verstanden, die haben uns Essen gekocht, griechisches. Dann sind sie zurück nach Griechenland gegangen. Die haben uns ihren Kaktus zurückgelassen, den pflegen wir jetzt seit 25 Jahren".
Die drei Schauspieler*innen Monika-Margret Steger, Bettina Franke und Kyamil Topchi – musikalisch begleitet von Christiane Schmied – konfrontierten eingangs anhand von Liedern, Fotos und Texten mit den Parallelwelten: Für die einen ist das Mittelmeer letzter und doch lebensbedrohlicher Ausweg für einen erhofften Neubeginn, für die anderen nostalgisch erinnertes Ferienparadies. Mit Texten von Hilde Domin, Selma Meerbaum-Eisinger, Bertolt Brecht und eigenen Geschichten zeigten Ramin Akbari, Kyamil Topchi und Polina Fuaad Sheba, wie sich das erzwungene Weggehen aus der geliebten Heimat anfühlt, welche Spuren das Zurücklassen von Menschen in ihnen hinterlassen hat und wie sie das Ankommen in Deutschland erleben.
Sorgsam geleitet durch die Fragen der Moderatorin beschrieben Tefik Ramadani und Hüseyin Ertunc aus ihrer jeweiligen persönlichen und politischen Biografie heraus, wie sie die Stimmung und Lage in den zurückliegenden Jahrzehnten erlebt haben und mit welchen politischen Handlungsformen sie zur Akzeptanz von Vielfalt in einem demokratischen Land beigetragen haben: Bei den Unmündigen stärker durch Provokation wie dem "Tag des deutschen Mitbürgers" mit Sauerkraut und Pfälzer Knödel oder im Migrationsbeirat durch öffentlichkeitswirksamen Dialog. Und was ist heute? Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, ist schlicht eine Tatsache. Dass rechtsextreme Gruppierungen Eingewanderte mit Gewalt bedrohen oder wie im Fall des rechtsterroristischen NSU unter Versagen der Behörden ermorden, auch.
Einig waren sich alle Gesprächspartner*innen im Verständnis dessen, was Deutschland analog im Sinn des norwegischen Königs Harald V. ausmachen könnte: "...Norweger sind auch aus Afghanistan, Pakistan, Polen, Schweden, Somalia und Syrien eingewandert. Meine Großeltern sind vor 110 Jahren aus Dänemark und England eingewandert. Es ist nicht immer leicht zu sagen, woher wir kommen, welche Nationalität wir haben." Weiter sagte er, dass seine größte Hoffnung ist, dass die Menschen es schaffen füreinander da zu sein, aufeinander acht zu geben. "So, dass wir dieses Land weiterhin auf Vertrauen, Solidarität und Großzügigkeit aufbauen können".
Im anschließenden Expertengespräch mit Hüseyin Ertunc (
Die Unmündigen e.V.) und Tefik Ramadani (Mitglied des
Migrationsbeirates Mannheim) das Annette Dorothea Weber moderierte, ging es um die Parallelen der 1990er Jahre mit heute: Kurz nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten flohen damals Hundertausende (1994: 438.000) aufgrund des Kriegs in Ex-Jugoslawien nach Deutschland. In Ostdeutschland brannten Asylunterkünfte und Asylsuchende wurden unter dem Applaus der lokalen Bevölkerung an sichere Orte gebracht. In Westdeutschland kamen bei Brandanschlägen türkische Familien ums Leben. Ein Aufstand der Anständigen blieb aus. Die Asylgesetze wurden verschärft. In Baden-Württemberg zog 1992 die Partei Die Republikaner ins Landesparlament ein. Der sogenannte Asylkompromiss markierte die politische Wende in der Asylgesetzgebung. Die Wiedervereinigung hatte nicht das gemeinsame Bekenntnis eines vielfältigen, offenen Deutschland hervorgebracht, sondern auch ein Wiedererstarken von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. In diese Stimmung hinein war das
Manifest der 60 Migrationsforscher*innen im Jahr 1994 für Deutschland als Einwanderungsland ein einsamer Ruf.
Weitere Informationen zur vierteiligen Veranstaltungsreihe "Gerücht oder Wahrheit?" des CaCm
HIER.
Fotos: CaCm