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05/07/2018
"Die Wissensstadt von morgen": IBA_LAB No 6 zur Halbzeit der IBA Heidelberg
Von 2012 bis 2022 will die Internationale Bauausstellung (IBA) Heidelberg unter dem Leitthema Wissen I schafft I Stadt Bauprojekte und Prozesse rund um die Wissensgesellschaft anstoßen. Zur Halbzeit der IBA fand am 05. und 06. Juli 2018 die jährliche IBA-Fachkonferenz zum Thema "Die Wissensstadt von morgen" statt. Die Freudenberg Stiftung war dabei Kooperationspartnerin der IBA und beteiligte sich am Panel "Koproduktion".
Im Panel "Koproduktion" diskutierten Kees Christianse, Dr. Thorsten Erl, Susanne Hofmann und Sascha Wenzel unter der Moderation von Carl Zillich (Mitte). (Foto: Freudenberg Stiftung)
Eine aktuelle
Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung bestätigte kürzlich die "brüchige soziale Architektur" in deutschen Großstädten. Besonders stark ausgeprägt ist die Armutssegregation in ostdeutschen Städten, aber auch Städte wie Mannheim oder Heidelberg erreichen nur Plätze im (schlechten) Mittelfeld. Interessant und ambivalent zugleich ist dabei, dass privaten Grundschulen in Westdeutschland eine desegregierende Wirkung im Stadtteil zugeschrieben wird. Eltern könnten hier die sozialräumliche Distanz zu anderen Milieus auch über die Schulwahl und nicht allein über einen Umzug herstellen – um den Preis allerdings, dass sich Trennlinien zu staatlichen Schulen verschärfen und soziale Vielfalt in Schulen unerreichbar scheint.
Das bundesweite Programm
Ein Quadratkilometer Bildung der Freudenberg Stiftung setzt sich seit über zehn Jahren zum Ziel, durch lokale Bildungsnetzwerke in sozial benachteiligten Quartieren mit Schulentwicklung und ergänzenden außerschulischen Bildungsangeboten die Folgen von Armutssegregation auszugleichen und gute, nicht-exklusive Schulen für Alle auch im öffentlichen Sektor zu ermöglichen. Schulen als "Koproduktion" pädagogischer, kommunalpolitischer und stadtplanerischer Akteure zu verstehen, ist essenzieller Bestandteil und einer der Grundgedanken des Programms. Auch in anderen Projektzusammenhängen der Freudenberg Stiftung gewinnt die Frage nach der Rolle sozialräumlicher Aspekte auf Inklusions- und Exklusionsprozesse zunehmend an Bedeutung.
Zu den zentralen Fragen des IBA_LAB No 6 gehörte, wie Lernorte in ihre soziale Umgebung integriert und bedürfnisorientiert baulich gestaltet werden können, um dadurch zu einer inklusiven Stadt- und Wissensgesellschaft beizutragen. Architektur, so zeigten die vorgestellten Modellösungen mehrerer internationaler Architekt*innen, kann einer Bildungseinrichtung Identität verleihen sowie die Verknüpfung von Orten und Menschen innerhalb der Institution, aber auch zum Außenraum – zur Natur und zur Bevölkerung – fördern. In neuen pädagogischen und stadtplanerischen Konzepten werden Schulen oder Universitäten immer weniger als Institutionen wahrgenommen, die ihrem Auftrag isoliert "im Elfenbeinturm" gerecht werden können. Verstärkt wird der wechselseitige Gewinn durch Interaktion, Begegnung und Austausch mit der Stadtgesellschaft in den Fokus gerückt. Dafür spielt mit eine Rolle, dass informelles Lernen und Alltagswissen zunehmend als gleichberechtigte Wissensformen anerkannt werden. Stadtplanerische Ansätze zur Umsetzung dieser Kontaktmöglichkeiten sind zum Beispiel dezentrale Baueinheiten einer Schule oder Universität, aber auch die Nutzung schulischer Räumlichkeiten für außerschulische Zwecke.
Kees Christiaanse, Vortragender im Panel "Koproduktion" und Professor für Architektur an der ETH Zürich sowie Gründer des Büros KCAP, versteht Städtebau als "Simultanschach" auf unterschiedlichen Ebenen, bei dem soziale, ökologische und ökonomische Prozesse und Interessen aufeinander abgestimmt werden müssen. Ziel ist es, u. a. durch partizipative Stadtentwicklung und Co-Working-Strukturen die räumliche wie soziale Bezogenheit der beteiligten Akteur*innen und Interaktionsprozesse zwischen ihnen zu fördern. Ausgehend vom Wortspiel "Partizipation Macht Architektur" diskutierte auch Susanne Hofmann vom Berliner Architekturbüro "die Baupiloten" stadtplanerische Beteiligungsprozesse und stellte Visionen-Verhandlungsspiele als möglichen Ansatz zur "methodisch geregelten Entscheidungsfindung" vor. Auf diese Weise kann es gelingen, die oft sehr unterschiedlichen Bedürfnisse aller beteiligten Nutzer- und Interessensgruppen spielerisch zu erkunden, kreativ zu verhandeln und schließlich zu einer gemeinsamen Gebäude-Vision zusammenzubringen, um so top-down- und bottom-up-Ansätze miteinander zu verbinden und Dialogfähigkeit auf Augenhöhe zwischen Leuten herzustellen, die oft (zunächst) nicht miteinander reden oder handeln wollen.
Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Partizipation haben gerade für Lehrkräfte an dysfunktionalen Schulen eine wesentliche Bedeutung, um aus einem Kreislauf aus Ohnmachtsgefühlen und Anmaßung ausbrechen zu können, nahm Sascha Wenzel, Geschäftsführer der Freudenberg Stiftung, in der anschließenden Diskussion Bezug auf die Ansätze von Ein Quadratkilometer Bildung. Daher gelte es auch verstärkt die Frage zu stellen, wie sich bedarfsorientierte Lernumgebungen auf das Lehrverhalten der Pädagog*innen auswirken, anstatt immer nur die Leistung der Schüler*innen als Maßstab zu nehmen. Um diese bedarfsorientierten Lernumgebungen – sowohl hinsichtlich der pädagogischen als auch architektonischen Gestaltung – entwickeln zu können, müsse das Schulpersonal jedoch bereit sein, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und sich auf ihre Schüler*innen und deren Familien sowie auf einen langfristigen Wirkungsprozess einzustellen.
Einig waren sich die Teilnehmenden des Panels über die hohe Bedeutung, die die Beziehungsqualität zwischen unterschiedlichen Akteur*innen eines Stadtteils für das Gelingen stadtplanerischer und stadtpolitischer Koproduktionen habe. Je heterogener die Lebenssituationen, desto unverzichtbarer werden solche "Brückenbauer" vor Ort wie Quartierbüros, die durch die Freudenberg Stiftung in 11 Städten errichteten Pädagogischen Werkstätten oder das
COMMUNITYartCENTERmannheim. Sie können diese Beziehungsarbeit in sich ständig wandelnden sozialen Konstellationen langfristig begleiten, moderieren und lebendig halten.
Bei allen bürokratischen und sozialen Hürden: Das Panel führte vor Augen, dass das Bewusstsein um die Wechselwirksamkeit sowohl zwischen Bildungseinrichtungen und ihren Nachbarschaften als auch zwischen materieller und sozialer Umwelt neue Möglichkeitsräume eröffnet, diese
Koproduktionen aktiv zu gestalten.