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15/10/2018
Workshop Reclaim Autonomy and Community: Digitale Demokratie – was ist das und wie geht das?
Am 15. und 16. Oktober 2018 lud die Freudenberg Stiftung zu einem Workshop zum Thema Digitale Demokratie. Ziel war es, gemeinsam mit Expert*innen aus dem eigenen Netzwerk und von externen Stellen das Verständnis für Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten zu schärfen und Orientierungswissen für künftige Investitionsfelder zu generieren.
Foto: Freudenberg Stiftung
In den Schwerpunktbereichen der Freudenberg Stiftung, Soziale Inklusion und Demokratische Kultur, lässt sich nicht mehr kompetent und verantwortungsvoll agieren ohne digitale Prozesse miteinzubeziehen. Es ist daher zentrales Anliegen der Stiftung, fundiertes Wissen darüber zu gewinnen, welche Auswirkungen Digitalisierungsprozesse auf soziale Ungleichheit und auf Demokratiebewusstsein haben und welche neuen Gestaltungsmöglichkeiten sich dadurch ergeben.
Längst ist es nicht mehr möglich, den "digitalen Raum" abgegrenzt von einer "analogen Wirklichkeit" zu betrachten, digital-technologische und sozial-kulturelle Prozesse sind tief ineinander verschlungen. Algorithmisch sortierte Intermediäre wirken wechselwirksam zusammen mit politischer Polarisierung und politisch oder kommerziell motivierter Desinformation, Bots und manipulierbaren künstlichen Intelligenzen. Das soziale Erleben hat sich durch digitale Formen der (Selbst)präsentation und Vernetzung einschneidend verändert, ökonomisierte Kommunikation ist zentraler Teil virtueller Wertschöpfungsketten. Mit diesen Entwicklungen sind Spannungsfelder verbunden, die eine profunde
ethische Reflexion und
Politisierung verlangen: Datentransparenz, Mitbestimmungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten gehen einher mit Kontrollverlust über persönliche Daten, neuen Informationsasymmetrien, Machtpolen und ungekannten Vernetzungspotenzialen für alle erdenklichen (auch demokratiefeindlichen) Partikularinteressen. Zugleich ergeben sich neue Handlungsspielräume für digitales Lernen, Gestalten, Sich-Vernetzen und Einflussnehmen.
Welche Bildung für das digitale Zeitalter?
Diese digitale Transformation stellt neue ambivalente Herausforderungen an die Identitätsbildung von Heranwachsenden: Ermöglichen Profile auf Facebook oder Instagram Jugendlichen, sich in verschiedenen Rollen unverfänglich zu erproben oder sind einmal ins Netz gestellte Daten vielmehr ein Ballast, der sich nie wieder loswerden lässt? Ist es ein Zugewinn, dass ein Umzug in eine neue Stadt keinen unmittelbaren Handlungsdruck mehr hervorruft, "echte" Menschen kennenzulernen, sondern Social Media eine intermediäre oder Ersatzfunktion einnehmen können? Wie lässt sich eine Souveränität gegenüber sozialer Indoktrination entwickeln, die im digitalen Raum ohne moderierende Instanz stattfinden kann?
In der tiefgreifend mediatisierten und digitalisierten Gesellschaft kommt daher Persönlichkeitsbildung eine wichtigere Rolle zu als der Vermittlung von Anwendungskompetenzen, die zumeist Peer-to-Peer weitergegeben werden: "Alles, was wir lehren, muss sich von Maschinen unterscheiden", forderte Jack Ma, Vorstandsvorsitzender der Alibaba Group beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos. Für die Schule bedeutet dies zum Beispiel, insbesondere den häufig an den Rand gedrängten musischen Bereich auszubauen. Auch die Dimension des aktiven Handelns gilt es neben der Fähigkeit des demokratischen, gewaltfreien Kommunizierens in den Fokus zu rücken, um das Selbstverständnis von Jugendlichen als Akteur*innen zu stärken. Auf dieses Ziel zahlt zum Beispiel das Projekt
#netzrevolte ein, das in Verbindung mit der Lehr- und Lernform Lernen durch Engagement (LdE) die demokratische Handlungs- und Urteilsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen im Netz fördern will. Wesentlich ist dabei, die Schule als
soziales System in den Blick zu nehmen. Digitale Demokratiebildung darf nicht, wie bislang zumeist üblich, einzelnen "Beauftragten" überlassen, sondern muss von einer "kritischen Masse" des Kollegiums fächerübergreifend in den Unterricht integriert werden. Voraussetzung hierfür ist auch, die Vermittlung digitaler Demokratiekompetenz als festen Bestandteil in die Ausbildung von Pädagog*innen aufzunehmen. Derzeit versuchen Projekte wie
debate//:dehate der Amadeu Antonio Stiftung diese Lücke zu füllen, indem "digitale Streetworker*innen" in Dialog mit Jugendlichen treten, die in Foren und Chats mit rechtsradikalen Meinungen sympathisieren, und darüber hinaus Fortbildungen und pädagogische Materialien für Lehrer*innen anbieten. Zudem zeigen die positiven Erfahrungen von lokal ausgerichteten Projekten wie die
Weinheimer Jugendmedien, dass sich das Digitale und das Lokale stärker zusammendenken lassen als es auf den ersten Blick scheinen mag und dass
lokale Unterstützungssysteme eine wichtige Brückenrolle im Bereich der digitalen (Schul-)Bildung einnehmen können. Gerade lokale Zusammenhänge ermöglichen Kindern und Jugendlichen nämlich, eine unmittelbare Selbstwirksamkeit zu erfahren und abstrakte digitale Prozesse konkret mit ihrer eigenen Lebenswelt in Bezug zu setzen.
Kritischer Blick auf konventionelle Ansätze
Viele konventionelle Ansätze zur Demokratiestärkung im Internet lassen sich dafür kritisieren, "analoge" Konzepte ohne ein fundiertes Verständnis für die sich ständig verändernden Kommunikationsmechanismen auf die digitalen Netzwerke zu übertragen. Dabei werden häufig diffuse Gegenwelten zu Hass und Hetze entworfen ("Love Speech"). Auch der starke Fokus auf Kinder und Jugendliche als Zielgruppe kann dazu führen, dass Erwachsene mit einem zum Teil größeren digitalen Nachholbedarf vernachlässigt werden (vgl. Studie BVDS/Körber-Stiftung 2018). Eine kritische, querdenkerische Wirkungsreflexion bestehender Ansätze scheint daher angebracht, aber auch das Schaffen einer soliden Infrastruktur wie institutionelles Monitoring sowie die Entwicklung neuer Handlungsansätze. Damit ist auch das Spannungsfeld verbunden, einerseits eine möglichst hohe Effektivität durch starke Flagship-Aktivitäten zu erzeugen, andererseits aber den vielfältigen digitalen Öffentlichkeiten gerecht zu werden.
Popkultur als Ressource
Der Einsatz von popkulturellen Ausdrucksweisen bietet vielversprechende Möglichkeiten, um ganz unterschiedliche Zielgruppen für die Auseinandersetzung mit demokratierelevanten Themen zu gewinnen. Demokratische Werte können auch mit Memes (= meist veränderte Bilder mit Wiedererkennungswert, die eine bestimmte Botschaft viral verbreiten) oder Star Wars (mithilfe von pädagogischem Begleitmaterial wird dieses filmische Heldenepos zum Lernen demokratierelevanter Mechanismen genutzt) vermittelt werden, und insbesondere
Gaming erweist sich als bislang noch wenig beachtetes Medium. Gerade mit Blick auf sensible gesellschaftliche Themen wie der Holocaust oder Flucht und Asyl können Spiele innovative Umgangs- und Reflexionsweisen anregen und dafür sensibilisieren, welche Konsequenzen das eigene Handeln für die Gesellschaft hat. Auch lassen sich so ungewöhnliche Allianzen zwischen traditionellen Akteuren, zum Beispiel Institutionen der Erinnerungskultur, und kreativen Newcomern schließen, zeigen neue Ansätze der Stiftung
"Erinnerung, Vergangenheit und Zukunft". Dabei können Spiele konstruiert oder aber pädagogisches Material für bereits etablierte Spiele entwickelt werden. Dennoch bleibt es ein Balanceakt, Spiel – per Definition eine "Tätigkeit ohne Zweck und aus Freude" – ohne Verlust an spielerischer Ästhetik und Authentizität mit einer direktiven pädagogischen Zielsetzung zu verbinden. Darüber hinaus lohnt es sich auszuloten, welche Interventionsansätze
Influencer*innen zur Verbreitung demokratiefördernder Inhalte bieten. Während die Mehrheit dieser popkulturellen Vorbilder in den sozialen Netzwerken mit subtilen Manipulationsstrategien scheinbar authentisch für bestimmte Lifestyles und Konsumgüter werben, gelingt es nämlich mittlerweile auch Influencer*innen wie etwa
MrWissen2go alias Mirko Drotschmann oder die Produzent*innen von
Jung & Naiv mit politischen und gesellschaftlichen Themen eine beachtliche Anzahl junger Follower an sich zu binden.
Jugendliche wünschen sich, Umgangsweisen mit Falschnachrichten und Anfeindungen im Netz zu erlernen, erfahren aber bislang nicht die notwendige Unterstützung, zeigt eine aktuelle Studie (2018) der Vodafone Stiftung. Dieser selbst wahrgenommene und geäußerte Bedarf ist somit ein starkes Indiz dafür, dass lebensweltorientierte und ansprechend gerahmte Initiativen gute Chancen haben, auf Akzeptanz zu stoßen. Gerade weil sich populistische Diskurse mit einfachen und emotionalisierten Botschaften im Netz leichter durchsetzen können, werden effektive, kreative, gemeinwohlorientierte Ansätze umso wichtiger, um die Deutungshoheit im digitalen Raum nicht demokratiefeindlichen Akteur*innen zu überlassen. Dabei dürfen wir, frei nach Friedrich Nietzsche, bei der "Bekämpfung des Ungeheuers nicht selbst zum Ungeheuer werden" und müssen mit neuen Spannungsfeldern und einer schwierigen Wirkungsfeststellung umgehen. Wenn digitale Demokratiekompetenz, in Anlehnung an den Informatiker und Gesellschaftskritiker Joseph Weizenbaum, im Kern vielleicht nichts mehr ist als die Fähigkeit "kritisch denken zu können", ist es Aufgabe des zivilgesellschaftlichen Sektors, hier anzusetzen und Diskursangebote und Anregungen zur Selbstreflexion zu schaffen.
Die Freudenberg Stiftung bedankt sich bei allen Teilnehmenden des Workshops für die konstruktiven und anregenden Diskussionsbeiträge, die in diesen Artikel eingearbeitet, aber zum Schutz der Persönlichkeitsrechte nicht namentlich gekennzeichnet wurden.