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27 November

Fachtag "Berliner geflüchtete Kinder und Jugendliche in Schule und Gesellschaft integrieren – mit Lernen durch Engagement"

Am Modellprojekt "ZwischenMenschlich – Miteinander in Vielfalt leben" haben bislang sechs Berliner
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27/11/2018

Fachtag "Berliner geflüchtete Kinder und Jugendliche in Schule und Gesellschaft integrieren – mit Lernen durch Engagement"

Am Modellprojekt "ZwischenMenschlich – Miteinander in Vielfalt leben" haben bislang sechs Berliner Schulen teilgenommen und Kinder und Jugendliche mit und ohne Fluchterfahrung in Engagementprojekten zusammengebracht. Ziel der Stiftung Lernen durch Engagement ist es nun, die langfristige Verankerung der Lehr- und Lernform Lernen durch Engagement im Land Berlin auf den Weg zu bringen. Um hierfür nachhaltige Strategien zu entwickeln und einen Politik-Praxis-Dialog zu initiieren, lud die Stiftung am 27. November 2018 Berliner Akteur*innen aus Bildungspolitik und -verwaltung zu einem gemeinsamen Fachtag.
Franziska Nagy und Stefan Vogt führten durch die Veranstaltung. (Foto: Freudenberg Stiftung)
Lernen durch Engagement (LdE; Service-Learning) ist eine Lehr- und Lernform, die gesellschaftliches Engagement von Schüler*innen mit Fachunterricht verbindet mit dem Ziel, zum einen Demokratie und Zivilgesellschaft zu stärken und zum anderen Schule und Lernkultur nachhaltig zu verändern. Unabhängig ihrer Herkunft sollen allen Schüler*innen gute Bildungserfahrungen ermöglicht werden, betonte Sandra Zentner, Geschäftsführerin der Stiftung Lernen durch Engagement. Die Engagementprojekte reagieren dabei immer auf einen realen Bedarf vor Ort, sollen bestimmten Qualitätsstandards entsprechen und sind curricular angebunden, bedeuten also keine "Zusatzarbeit" für Schüler*innen oder Lehrer*innen. Gerade Schüler*innen, die im konventionellen Unterricht ansonsten wenig Erfolgserlebnisse haben, entdecken durch LdE häufig ganz neue Stärken und Interessen. Es geht dabei nicht darum, die Frage zu stellen, ob Projekte "geklappt" haben oder nicht, sondern, im Geist der Pädagogik John Deweys, darum, aus dem Nachdenken und Sprechen über das eigene Tun zu lernen. Die Stiftung Lernen durch Engagement, die aus einem Schlüsselprogramm der Freudenberg Stiftung hervorgegangen ist, investiert insbesondere in die Aus- und Fortbildung von Pädagog*innen und schulexternen Multiplikator*innen, um LdE als Methode fest zu verankern sich selbst eines Tages "überflüssig" zu machen. Dabei ist sie auf einem guten Weg: aus anfänglich zehn Modellschulen ist heute ein bundesweites Netzwerk mit insgesamt rund 200 Kooperationsschulen herangewachsen.

Neben anderen Kooperationsprojekten, u. a. mit der Siemens Stiftung im Bereich Mint-Fächer oder der Deutsche Bahn Stiftung zur Berufsorientierung, entstand 2017, unterstützt von der Stiftung Berliner Sparkasse, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Freudenberg Stiftung das Projekt "ZwischenMenschlich – Miteinander in Vielfalt leben", an dem bislang sechs Berliner Schulen teilnehmen. ZwischenMenschlich will die demokratische Partizipation insbesondere von geflüchteten Kindern in ihrem Stadtteil fördern und sie dabei in die Position versetzen, sich selbst aktiv zu engagieren anstatt, wie zumeist, Empfänger*innen von Unterstützungsleistungen zu sein. Erste Projektbeispiele sind zum Beispiel Schüler*innen einer Willkommensklasse, die die deutsche Sprache und naturwissenschaftliche Experimente kennenlernten und selbst Experimentiertage mit Kindergartenkindern durchführten oder Schüler*innen mit und ohne Fluchterfahrung, die sich im Unterricht mit Armut und Reichtum in Deutschland beschäftigten und sich gemeinsam in der nahegelegenen "Tafel" für Obdachlose und Bedürftige engagierten. Dabei lernten die Jugendlichen die Einrichtung kennen, erstellten für die Bedürftigen Kochrezepte in verschiedenen Sprachen und aus verschiedenen Kulturen, sammelten Lebensmittelspenden und schafften Aufmerksamkeit für die Thematik in der Schule und den Familien. Beispielhaft vorgestellt wurden den Teilnehmenden des Fachtags ein Projekt an der Kopernikus-Oberschule in Berlin-Steglitz durch die Mittelstufen-Leiterin Frau Dziedzioch-Teuscher. Um die Verbindung zwischen Schüler*innen mit und ohne Fluchthintergrund der Sekundarschule und der nahegelegenen Grundschule zu stärken, beschäftigten sich Siebtklässler*innen im Wahlpflichtfach "Soziale Bildung" mit der Bedeutung von Engagement für die Zivilgesellschaft und gestalteten ein Spiele-Kreativ-Café für die Kinder aus dem Hortbetrieb. Ebenso stellte Herr Kuhne von der Schule am Schloss in Berlin-Charlottenburg das von ihm geleitete Projekt vor, in dem Schüler*innen der achten Klassen fächerübergreifend über Kulturerbe, urbane Räume sowie Stadtgeschichte lernten und eine eigene Webseite und digitale Führung für Gleichaltrige in ihrem Stadtteil Charlottenburg entwickelten. Die beteiligten Schüler*innen seien kooperativer und verantwortungsbewusster geworden, berichtete Kuhne, der Versuch, "die Leine locker zu lassen“, habe funktioniert und die Schüler*innen arbeiteten oft freiwillig sogar über die Unterrichtszeit hinaus an ihrem Projekt. Außerdem sei eine wechselseitige Öffnung gegenüber ihrem Kiez und eine Vernetzung in die unterschiedlichsten Richtungen bemerkbar geworden. Sein Dank an das Team von LdE richtete sich zugleich als Ermutigung an die anwesenden Lehrer*innen: "Habt keine Angst!", verwies er auf die enge, flexible und qualitative Begleitung und Hilfestellung durch die Stiftung.

Demokratiekompetenz durch Lernen durch Engagement

Demokratie zu stärken ist grundlegendes Anliegen von Lernen durch Engagement und längst keine Selbstverständlichkeit, betonte Markus Gloe, Professor für Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde an der LMU München mit Blick auf aktuelle Studien. So zeigte eine Untersuchung des Deutschen Kinderhilfswerks, dass 44% der Kinder und Jugendlichen nicht wissen, wie und ob sie mitbestimmen können. Das Netzwerk für Demokratie und Courage und Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. brachten 2018 zu Tage, dass auch unter Lehrkräften selbst ein hohes Maß an Politikverdrossenheit bis hin zu menschenfeindlichen Einstellungen vorhanden sind und sie sich selbst häufig nicht in der Verantwortung fühlen, Demokratiekompetenzen zu vermitteln. LdE will dabei explizit eine starre Trennung zwischen Demokratie als Herrschaftsform und als Lebensform aufbrechen und deutlich machen, dass jedes gesellschaftliche Handeln auch politisches Handeln ist.

Um das Konzept der Demokratiekompetenz einerseits theoretisch solide zu fundieren und andererseits Lehrer*innen und Schüler*innen die Anwendung zu erleichtern, entwickelte die Stiftung Lernen durch Engagement gemeinsam mit Prof. Dr. Markus Gloe ein Demokratiekompetenz-Modell. Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse unterteilt das Modell "Demokratiekompetenz" in die drei Teile "Einstellungen und Werte", "Praktische Handlungsfähigkeiten" und "Wissen und kritisches Denken", denen neun Teilkompetenzen, u. a. "Soziales Verantwortungsbewusstsein", "Toleranz für Mehrdeutigkeit & Unsicherheit", "Selbstwirksamkeit", "Konflikt- & Dialogfähigkeit" und "Informierte Offenheit & Analytische Denkweise" zugeordnet sind. Diese werden wiederum in konkrete Performanzen in Ich-Form und Reflexionsfragen für die Schüler*innen in verständlicher Sprache übersetzt. Das Modell wurde im Projekt ZwischenMenschlich erprobt und ist mittlerweile auch Grundlage für mehrere andere Projekte der Stiftung, u. a. für das Projekt #netzrevolte, in dem Schüler*innen auf der Basis dreier selbstgewählter Teilkompetenzen Engagementprojekte in der Verbindung mit digitalen Themen gestalten, und soll künftig noch breiter in der Praxis und im Netzwerk LdE implementiert werden.

Lehrer*innen für LdE begeistern und Multiplikator*innen gewinnen

Bei der Verankerung von LdE in den einzelnen Bundesländern ist für die Stiftung die engagierte Zusammenarbeit mit regionalen Kompetenzzentren für Lernen durch Engagement zentral. Diese unterstützen sowohl die Kooperation mit der Politik als auch die Begleitung und Fortbildung der beteiligten Schulen. Zu den langjährigsten Kooperationspartnern von LdE zählt die Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis. Seit 2004 hilft sie dabei, LdE in der Region zu verbreiten, seit 2011 ist sie offizielle Netzwerkstelle für LdE in Sachsen-Anhalt und damit auch fester Partner für die Politik, erläuterte Dana Michaelis, Ansprechpartnerin für LdE in der Freiwilligen-Agentur. Bislang wird LdE in rund 40 Schulen Sachsen-Anhalts eingesetzt. Die Freiwilligen-Agentur konnte verbindliche Kooperationsverträge und Zielvereinbarungen mit dem Bildungsministerium zur qualitätsvollen Umsetzung von Service Learning-Initiativen an Schulen aller Schulformen in Sachsen-Anhalt schließen. Diese beinhalten u. a. eine schrittweise Verankerung von LdE in die Grundsatzbände und Fachlehrpläne, finanzielle Mittel und die Unterstützung bei der Einführung von Wahlpflichtkursen und Modellprojekten. Sie haben auch den Vorteil, dass LdE so als anerkannte Lehr- und Lernform ernst genommen und ihre Legitimation gegenüber Schule und Eltern erhöht wird. Die Schulen selbst unterstützt die Freiwilligen-Agentur mit Qualifizierungsangeboten und Schulbegleitung in Form von Workshops, praktischer Unterstützung oder Planungs- und Evaluationsgesprächen, agiert dabei aber immer bedarfsorientiert und auf Anfrage durch die Schulen selbst. Michaelis' Empfehlung an die Lehrer und Lehrerinnen lautet nicht zuletzt, LdE "einfach einmal auszuprobieren" – und "wenn es nicht geklappt hat, so weiterzumachen wie früher!".

Ähnlich ermutigend äußerte sich Marion Schlüter, die das Kompetenzzentrum LdE in Schleswig-Holstein (Kurt-Tucholsky-Schule Flensburg) leitet und selbst erfahrene LdE-Lehrerin ist. Auch in Schleswig-Holstein gelang es, mit dem Ministerium für Bildung eine Kooperationsvereinbarung bis 2020 zu unterzeichnen. Mittlerweile wird LdE vom Bildungsministerium Schleswig-Holstein als eine von zehn pädagogischen Methoden für den Unterricht empfohlen. Sie habe seit 2015 eine "Fortbildungsoffensive für LdE" gestartet und zeigt sich insbesondere von einem neuen Format überzeugt, in dem Lehrer*innen die Umsetzung konkreter Projekte Schritt für Schritt durch Peer-Learning erarbeiten. Schlüter ist es wichtig, Schulen zu vermitteln, dass LdE eine Unterstützung und keinen zusätzlichen Arbeitsaufwand für Lehrer*innen bedeutet, aber dennoch zumindest in der Anfangsphase Ausgleichsstunden für LdE-Lehrer*innen sinnvoll sind: Unterricht, der "sowieso" gehalten werden muss, solle mithilfe von LdE "einfach gut" gemacht werden. Potenzial für LdE sieht Schlüter dabei insbesondere im Bereich der Berufsorientierung, wie bereits mit dem Projekt Berufene Helden umgesetzt, sowie in Inklusionsklassen.

An verschiedenen Thementischen im LdE-Worldcafé konnten sich die Teilnehmenden anschließend gemäß ihren eigenen Interessen vertiefte Einblicke verschaffen und in den Austausch mit Gleichgesinnten und erfahrenen "LdE-lern" treten. So wurden u. a. mithilfe der eigens von LdE entwickelten "Ideenkiste" erste kreative Projektideen im Kontext Flucht und Migration entwickelt, über Erfahrungen zu LdE in Willkommensklassen berichtet, die pädagogischen Materialien aus dem Projekt ZwischenMenschlich vorgestellt oder LdE in Schulentwicklung und Lehrerbildung diskutiert. Mit dem informativen und interaktiven Fachtag, bei dem sowohl innovative digitale Tools wie Live-Umfragen unter den Teilnehmenden zum Einsatz kamen, aber auch ganz "analogen" Bedürfnissen wie dem leiblichen Wohl beim informellen Austausch und Netzwerken gerecht wurde, hat das Team der Stiftung Lernen durch Engagement gezeigt, dass sie Expert*innen darin sind, Menschen unterschiedlicher Hintergründe in Dialog zu bringen, zu Reflexion anzuregen und für die Idee von Lernen durch Engagement zu begeistern.

Die Freudenberg Stiftung engagiert sich seit 2001 für Lernen durch Engagement in Deutschland. Das ehemalige Schlüsselprogramm der Freudenberg Stiftung wurde 2017 als eigenständige Stiftung Lernen durch Engagement ausgegründet, die von der Freudenberg Stiftung nach wie vor institutionell und projektbezogen unterstützt wird.