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24 Oktober

Praxis- und Dialogforum: Bildungsrecht für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung: JETZT!

Am 24. und 25. Oktober fand in Weinheim zum fünften Mal das jährliche Praxis- und Dialogforum für unsere Partner*innen im Modellprogramm "Bildungsrecht für Kinder und
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24/10/2019

Praxis- und Dialogforum: Bildungsrecht für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung: JETZT!

Am 24. und 25. Oktober fand in Weinheim zum fünften Mal das jährliche Praxis- und Dialogforum für unsere Partner*innen im Modellprogramm "Bildungsrecht für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung: JETZT!" statt. Mittlerweile ist das letzte Jahr der Programmlaufzeit angebrochen. Die Beteiligten konnten gemeinsam mit der Wissenschaftlichen Begleitung der Universität Frankfurt einen nun reichen Erfahrungsschatz gemeinsam reflektieren, Denkanstöße durch einen Diskussionsvortrag von Dr. Robert Bernhardt (Universität Frankfurt) gewinnen sowie ein neues E-Learning für traumasensibles Lehren kennenlernen.
Foto: Freudenberg Stiftung
Die Gestaltung von Übergängen stand dieses Mal im Mittelpunkt der Einblicke aus der Wissenschaftlichen Begleitung durch Dr. Anne Seifert und Annika Schelling (Universität Frankfurt). Für ein "fluchtsensibles Bildungssystem", zu dem alle Projekte vor Ort beitragen wollen, spielt die kompetente Unterstützung der Kinder und Jugendlichen an den Übergängen zwischen weiterführenden Bildungsinstitutionen, aber auch zwischen anderen Lebensbereichen eine entscheidende Rolle. Anhand des ökosystemischen Modells von Urie Bonfenbrenner zeigten die beiden Wissenschaftlerinnen, von welchen verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen die Projektkontexte beeinflusst werden und dass sich dort viele unterschiedliche Mikrosysteme, z. B. Familie, Kita, Schule, mit ihren oftmals widersprüchlichen Logiken berühren. Übergänge zu begleiten bedeutet für die beteiligten Fachkräfte dabei auch, sich selbst in "Übergänge" in Bezug auf ihre eigene professionelle Praxis zu begeben und reflexiv mit den Denk- und Handlungsmustern ihres eigenen jeweiligen "Mikrosystems" umzugehen.

Spannungsfelder "fluchtsensibler" Pädagogik im Fokus

In drei unterschiedlichen Workshops waren die Teilnehmer*innen zudem eingeladen, zu verschiedenen Spannungsfeldern, die bei den Bemühungen um ein "fluchtsensibles Bildungssystem" entstehen können, in Austausch zu treten. Eine Gruppe beschäftigte sich mit der Frage, wie die Fluchterfahrung der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt werden kann, ohne dadurch sogar noch mehr zu ihrer Stigmatisierung beizutragen. Der Wunsch, individuelle Vielfalt als Normalität zu verstehen und die manchmal notwendige Sichtbarmachung von Benachteiligung aufgrund des Fluchthintergrunds kommen sich hier oftmals in die Quere. Ein zweiter Workshop behandelte die Frage, wie innerhalb des Systems gehandelt und es gleichzeitig verändert werden kann. "Also manchmal hab´ ich das Gefühl, so eine kleine Feuerwehr zu sein. (...) Also das ist so meine Rolle an der Schule.", beschrieb eine Projektpartnerin im Interview ihren Eindruck, nur kompensatorisch handeln zu können. Gerade bei additiven Unterstützungsmaßnahmen besteht die Gefahr, dass sie das kritisierte System noch weiter stabilisieren. Eine weitere Gruppe setzte sich mit dem Spannungsfeld zwischen behördlichen Vorgaben und individuellen Bedürfnissen auseinander, in dem die Grenzen pädagogischen Handelns zutage kommen. Migrationsprozesse stellen mit Paul Mecheril (2016) "die Funktionalität und Legitimität von gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen (…) infrage, da sie dezidiert auf deren Be-Grenztheit (…) verweisen", genau dadurch aber auch Modernisierungspotenzial für eine Gesellschaft haben können.

Radikale Perspektivenübernahme in der Arbeit mit Seiteneinsteiger*innen?

Dr. Robert Bernhardt (Universität Frankfurt) eröffnete eine neue Sicht auf die pädagogische Begleitung von sogenannten Seiteneinsteiger*innen. Die Praxis in Fördereinrichtungen, so Bernhardt, wird oft durch "dysfunktionale habituelle Muster" bestimmt, indem die Fachkräfte in der Arbeit mit marginalisierten Gruppen ihren eigenen Perspektiven der bürgerlichen Mittelklasse verhaftet sind und ihre Begleitung von den Jugendlichen daher nicht als gute Vorbereitung auf ihr weiteres Leben wahrgenommen wird. Deren Blickwinkel - das, was ihnen wirklich wichtig ist - müsste in der pädagogischen Arbeit, möglichst weitgehend befreit von strukturellen Normen, stärker als Ausgangspunkt genommen werden. Denn zum einen bleiben die Heranwachsenden auch unter widrigsten Umständen immer Akteur*innen mit eigenem Handlungsspielraum und Verantwortung für ihr Leben, zum anderen lassen sich nicht alle Probleme, zum Beispiel familiäre Gewalt, pädagogisch lösen, betonte Bernhardt. Gerade weil wir aber alle unser jeweiliges milieubedingtes Weltwissen verinnerlicht haben, ist es kein leichtes Unterfangen, sich "einmal die Schuhe des Anderen" anzuziehen und grundlegend abweichende Lebensweisen als legitim anzuerkennen.

Neues E-Learning "Traumasensibles Lehren"

Mehr als die Hälfte der geflüchteten Kinder in Deutschland zeigen psychologische Belastungssymptome, doch psychosoziale Angebote in und außerhalb der Schule sind massiv unterfinanziert. Um diesen ungedeckten Bedarf abzumildern, entstand auf Initiierung und Vermittlung der Freudenberg Stiftung in einem Kooperationsprojekt zwischen der niederländischen Augeo Foundation, dem Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) und der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) ein E-Learning für pädagogische Fachkräfte zum Umgang mit geflüchteten, traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Hierfür wurden die von der Augeo Foundation bereits 2015 für die Niederlande entwickelten Schulungen übersetzt und auch inhaltlich an den deutschen Kontext angepasst. Das Projekt wurde von der Freudenberg Stiftung, der GEW und terre des hommes gefördert. Auch unsere Projektpartner*innen sind in ihrer Arbeit alle bereits mit dieser Herausforderung in Berührung gekommen, zeigte der von Leonie Teigler (BAfF) und Tobias Klaus (BumF) moderierte Workshop. Die traumatischen Symptome können sich ganz unterschiedlich äußern, in einem Widererleben der traumatischen Situation, z. B. durch Flashbacks, in einer Übererregung wie Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten oder einem Vermeidungsverhalten, z. B. Sprachlosigkeit und emotionale Taubheit. Die seit Ende September online verfügbaren E-Learning-Kurse ermöglichen nun Pädagog*innen und Sozialarbeiter*innen mit einem relativ geringen Zeitaufwand von 4-5 Stunden Orientierungswissen darüber zu gewinnen, wie sie traumabedingte Symptome erkennen und mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen möglichst kompetent umgehen können.

Mit Blick auf die auslaufende Programmlaufzeit stellt sich für die Freudenberg Stiftung in diesem letzten Jahr zunehmend die Frage, wie sie die gewonnenen Erkenntnisse mithilfe ihrer Partner auch politisch einsetzen kann, um z. B. die durchgängige Sprachbildung oder die rechtlichen Rahmenbedingungen für geflüchtete Kinder und Jugendlichen zu verbessern. Was als Initiative zur "Brandlöschung" angesichts eines dringenden Bedarfs 2015 begann, soll möglichst seine dauerhaften Spuren im Regelsystem hinterlassen.