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20 Januar

Wie erinnern wir uns morgen? Veranstaltung des Projekts LEDIZ/LMU zum Gedenken mit digitalen Technologien

Wie erinnern wir uns morgen, wenn uns keine Zeitzeug*innen mehr von ihren Erfahrungen im Holocaust erzählen und das Grauen bezeugen können? Mit dieser Frage beschäftigt
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20/01/2023

Wie erinnern wir uns morgen? Veranstaltung des Projekts LEDIZ/LMU zum Gedenken mit digitalen Technologien

Wie erinnern wir uns morgen, wenn uns keine Zeitzeug*innen mehr von ihren Erfahrungen im Holocaust erzählen und das Grauen bezeugen können? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Projektgruppe LEDIZ an der LMU seit 2018. Am 20.01.2023 wurden im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung im Lichthof der LMU Einblicke in vier unterschiedliche Formate digitaler Zeitzeugnisse geboten, die LEDIZ entwickelt hat. Persönlich anwesend waren u. a. die Holocaust-Überlebenden Eva Umlauf und ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden Eva Knobloch sowie der Vizepräsident des Bayerischen Landtags Alexander Hold.
Photo: Freudenberg Stiftung
"Geht nicht denselben Weg wie wir! Entscheidet euch für das Gute, nicht das Böse", zitiert Projektkoordinator Prof. Dr. Markus Gloe, Lehreinheit Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde der LMU, den Appell der im letzten Jahr verstorbenen Holocaust-Überlebenden und Sintezza Zilli Schmidt an die junge Generation.

Um dies zu erreichen, müssen die Erfahrungen der Zeitzeug*innen des Holocaust auch für zukünftige Generationen bewahrt und als Lernerlebnisse umgesetzt werden, so Prof. Dr. Gloe weiter. Daran arbeitet die interdisziplinäre Projektgruppe LEDIZ (Lernen mit digitalen Zeugnissen) an der LMU seit 2018. Im Rahmen des Projekts entstanden die ersten deutschsprachigen interaktiven digitalen Zeugnisse.

Zilli Schmidts Lebensgeschichte bleibt nun, wie auch die der jüdischen Überlebenden Abba Naor und Eva Umlauf, in einem interaktiven digitalen 3D-Zeugnis lebendig – auch wenn diese kein Ersatz für Zeitzeug*innen-Gespräche sein können, wie Prof. Dr. Gloe betont. Aber sie können "auf andere Weise Erinnerung wachhalten".

Schüler*innen werden noch in Jahrzehnten in digitalen Austausch mit Zilli Schmidt treten und ihr ganz persönliche Fragen stellen können. Eine Spracherkennungssoftware ermöglicht, dass ihnen das 3D-Abbild von Zilli Schmidt die passendste Antwort auf um die 1.000 prototypische Fragen geben wird, die ihr im Rahmen der Produktion gestellt worden waren. Die Erfahrungen, die bereits mit den Zeugnissen in Schulklassen gemacht werden konnten, zeigten, dass die Schüler*innen im Umgang mit den digitalen Zeugnissen oft unbefangener sind als mit lebenden Zeitzeug*innen. Nach dem gleichen Prinzip entstand zudem ein interaktives digitales 3D-Zeugnis mit zehn Sinti*zze und Rom*nja der zweiten Generation in Deutschland, die von den "vererbten" familiären Traumata und ungebrochenem Antiziganismus der Nachkriegszeit berichten.

Außerdem wurde im Rahmen des LEDIZ-Projekts eine Virtual Reality (VR)-Experience zur Holocaust-Überlebenden Eva Umlauf entwickelt. Mit einer VR-Brille kann ein VR-Raum mit einem volumetrischen Video betreten werden. Der oder die Lernende findet sich dann, von Angesicht zu Angesicht, in einem Wohnzimmer mit Eva Umlauf wieder, die ihre Geschichte erzählt wie in einem leibhaftigen Dialog. Sie wurde 1942 im Arbeitslager Nováky in der heutigen Slowakei geboren und als Zweijährige nach Ausschwitz deportiert, wo sie aufgrund der vorrückenden Roten Armee nur knapp der Vergasung entkam. Zusätzliche interaktive Elemente, wie ein Fotoalbum, das geöffnet werden kann, schaffen eine Atmosphäre, die die Lernenden direkt in die Situation einbezieht und tief in die Erzählungen eintauchen lässt.

Nach dem gleichen Prinzip wird eine Begegnung mit dem Münchner Holocaust-Überlebenden Ernst Grube simuliert, der, in einer beklemmenden Stimmung vor einem Zug in winterlicher Landschaft, auf die Fragen eines Jugendlichen antwortet. Als Dreizehnjähriger wurde Grube als "Halbjude" 1945 nach Theresienstadt deportiert. Heute engagiert er sich aktiv in der Vergangenheits- und Aufarbeitungspolitik.

In einem vierten Format, einer Extended Reality (XR)-Plattform zu Kunst und Kultur im ehemaligen KZ Theresienstadt, steht die Musik des in Ausschwitz ermordeten Viktor Ullmann im Fokus, der noch in Theresienstadt einen beträchtlichen Teil seines Werks komponiert hat. Die XR-Plattform ermöglicht es, im ehemaligen Lager zu navigieren und die Zeugnisse in der digital nachempfundenen Umgebung eindringlich wirken zu lassen.

Verändertes Erinnern für eine veränderte Gesellschaft

Es sind ganz unterschiedliche Biografien, die im Projekt zusammenlaufen, und die sich alle im Grauen der KZ-Gefangenschaft kreuzten, so Projektkoordinatorin Prof. Dr. Anja Ballis, Fachbereich Didaktik der deutschen Sprache und Literatur.

Ziel des Projekts LEDIZ sei es, mittels aktivierender Formate Solidarität und Empathie herzustellen und den Veränderungen der digitalen Migrationsgesellschaft auch mit veränderten Formen des Erinnerns gerecht zu werden.
Die auf digitalen Technologien basierenden Formate können hierfür einen wichtigen Beitrag leisten, gerade weil sich LEDIZ auch mit Kritik – etwa die der "digitalen Konservierung in Form von nutzfreundlichen Häppchen" und der Manipulationsgefahr – konstruktiv auseinandersetzt.

Für die LMU gehört Erinnern zu ihrer DNA und ist eine beständige institutionelle Aufgabe, betont Vizepräsident der LMU für den Bereich Studium Prof. Dr. Oliver Jahraus. Wie kaum eine andere Universität ist ihre nun 550-jährige Geschichte von Antisemitismus geprägt, die am 18. Februar 1943, in der Verhaftung der Mitglieder der "Weißen Rose" bei ihrer letzten Flugblatt-Aktion gipfelte.

In einem nächsten Schritt geht es nun darum, die öffentlich zugänglichen digitalen Formate in die Breite, in Schulen, Museen und andere Bildungseinrichtungen, zu tragen sowie mit qualitativen pädagogischen Begleitkonzepten Lehrer*innen und Lehramtsstudierenden unterschiedlicher Fächer und Altersstufen ermöglichen, gut mit den Zeugnissen zu arbeiten.



Die Freudenberg Stiftung initiierte die Kooperation der LMU mit Madhouse, um Zeitzeugnisse der vernachlässigten NS-Opfergruppe der Sinti*zze und Rom*nja zu ermöglichen. Die Stiftung förderte interaktive digitale 3D-Zeugnisse von zehn Sinti*zze und Rom*nja der zweiten Generation und beteiligte sich, gemeinsam mit der Stiftung EVZ und der Kulturstiftung des Bundes, an der Förderung des 3D-Zeugnisses von Zilli Schmidt.