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05/05/2025
Wer schweigt, ist nicht neutral
Die Freudenberg Stiftung hat Jakob Springfeld, Autor und Menschenrechtsaktivist, als Experten für ein Hearing zur Demokratiearbeit mit Fokus auf Ostdeutschland eingeladen. Daraus entstanden ist ein Austausch über gemeinsame Wege, die Demokratiekompetenz junger Menschen zu stärken. Hier gibt er Einblick, wie dies auch gelingen kann, wenn der Hass scheinbar überhandnimmt.
Baseballschlägerjahre
"Pass auf, dass du dir in sieben Tagen keine fängst, Kleiner" – diese Nachricht erhalte ich eine Woche bevor ich mal wieder auf einer Lesungstour durch das Land fahre, gefolgt von einem Augen-Emoji, auf das ein Boxhandschuh-Emoji trifft.
Sieben Tage später fahre ich los, für Lesungen in Schulen auf die Insel Rügen: Hier trifft Vereinsamung auf einen schlechten öffentlichen Personennahverkehr und Jugendliche, die sich zum Feierngehen häufig erst in den Zug nach Stralsund setzen müssen. Bei meinen Veranstaltungen vor Ort spreche ich über Wege, um gegen Neonazis aktiv zu werden, und an einer Schule erzähle ich von der Drohung, die mich erreicht hatte.
Ich bin erleichtert, als die Lesung mit anschließender Diskussion glimpflich verläuft, auch wenn danach Unruhe aufkommt: Schüler*innen behaupten zu wissen, wer hinter der Nachricht steckt, die Person soll bei meiner Lesung anwesend gewesen sein, bleibt aber mucksmäuschenstill. Die Lehrkräfte wollen mich anschließend nicht allein zum Auto laufen lassen.
Sie berichten davon, wie die neonazistische Gruppe "Mecklenburgs Jugend voran" auf der Insel versucht, junge Männer zu gewinnen. Es wird deutlich, wie viel Erfolg die Neonazis innerhalb weniger Monate gehabt haben. Von Drohungen, Hakenkreuzen und Hitlergrüßen ist die Rede.
Ob die Baseballschlägerjahre zurück sind? Sie waren nie weg. Meinen Beobachtungen zufolge agiert die extreme Rechte in gewisser Hinsicht zyklisch: Wenn Neonazis das Gefühl haben, dass in ihrer Umgebung ein breiterer demokratischer Grundkonsens besteht, dann treten sie "bürgerlicher" und unauffälliger auf. Wenn dieser Grundkonsens, wie aktuell, zusammenbricht, und extrem-rechte Parteien in Umfragen stärkste Kraft sind, dann verbreiten sich rechte Erzählungen. Das motiviert wiederum gewaltbereite, selbstbewusste und junge Neonazis – in allen Teilen des Landes und darüber hinaus.
Bei beinahe jeder Lesung stehen Jugendliche vor mir und berichten von ihren Hass- oder Diskriminierungserfahrungen, die sie noch nie irgendwo gemeldet haben. Warum? Weil diese Erfahrungen für die meisten längst "normal" geworden sind. Und weil viele Verantwortungstragende nicht den Eindruck hinterlassen, dass die Probleme auch nur einen Wimpernschlag ihrer Aufmerksamkeit wert sind. Sie suchen offenbar lieber nach Sündenböcken, um abzulenken.
Welchen Fokus wollen wir setzen?
In alternativen Jugendzentren, in Literaturhäusern oder in der großstädtischen Stadtbibliothek Lesungen zum Thema Demokratieschutz, Rechtsextremismus und Antidiskriminierung zu veranstalten, ist einfach. Und verstehen Sie mich nicht falsch, es ist auch wichtig.
Was mir jedoch viel wichtiger erscheint? Die eigene Blase zu verlassen, sich in ungewohntes Terrain begeben und der Versuchung einer ständigen Selbstbestätigung trotzen. Mein Name ist Jakob Springfeld, ich bin 23 Jahre alt, im sächsischen Zwickau aufgewachsen und toure seit mittlerweile mehr als zwei Jahren durch Deutschland, um mit den verschiedensten Menschen über genau jene Themen ins Gespräch zu kommen.
Nach meinen Lesungen diskutiere ich an Schulen, in Kirchgemeinden, mal bei der Bundeswehr und mal mit der Konrad-Adenauer-Stiftung über den Aufstieg der Extremrechten und wie wir im Alltag gemeinsam aktiv werden können. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um über meine Erfahrungen an Schulen zu schreiben.
Meist ist es so, ich erhalte eine Lesungsanfrage und die organisierenden Lehrkräfte oder Schulleitungen haben ein konkretes Ziel: "Bitte versuchen Sie unsere auf die falsche [extrem-rechte] Bahn gekommenen Kids von ihrem Gedankengut abzubringen!" – "Innerhalb von 90 Minuten?!" entgegne ich und kann hier Spoilern, dass mir jenes vollumfängliche Überzeugen meist nicht gelingt.
Ich finde, dass das Beispiel gut zeigt, dass der Fokus oft falsch gesetzt wird. Seit Jahren fragen wir uns, wie wir extrem-rechte Bewegungen klein kriegen, statt auch mal zu fragen, wie wir soziale Bewegungen überhaupt großkriegen! Um wieder über die Schulen zu sprechen: In der Zeit, in der ich eine extrem-rechte Person davon abbringen kann, extrem-rechts zu sein, in der kann ich bestenfalls fünfzehn weltoffene Kinder zusammenbringen, um gemeinsam zu diskutieren, wie sich zum Beispiel eine Arbeitsgruppe zur Antidiskriminierung an der Schule realisieren lässt. Ich glaube, dass das häufig der effektiviere Weg ist, vor allem wenn die Zeit begrenzt ist.
Was ich damit sagen möchte: Es braucht Räume, in denen sich weltoffene oder von Diskriminierung betroffene Menschen sicher fühlen, in denen sie sich überhaupt erstmal finden können und in denen sie spüren, wie stark sie sein können, wenn sie sich zusammenschließen. Dafür ist es übrigens völlig fehl am Platz vorhandene Ängste auszusparen oder stumpf für mehr Zivilcourage zu appellieren! In Zeiten von näher rückenden Kriegen, Klimakrise, sozialer Unsicherheit und Nachrichtenflut haben, gerade Jugendliche, Ängste. Ein Ziel meiner Arbeit ist es genau jene Ängste, gerade auch für männliche Jugendliche, besprechbarer zu machen.
Wer schweigt, ist nicht neutral
Es passiert immer häufiger, dass sich Schüler*innen nach meinen Lesungen melden und sagen: "Jetzt mal ganz ehrlich, ich glaube 80 Prozent an meiner Schule sind rechtsextrem und ich habe wirklich Angst mich zu positionieren." Wenn ich im Anschluss mit einer Lehrkraft spreche, wird dieser Eindruck dann meist folgenderweise negiert: "Es sind nicht 80 Prozent rechtsextrem, aber 20 Prozent. Und diese 20 Prozent sorgen dafür, dass sich die 80 Prozent nicht mehr trauen etwas dagegen zu sagen." Wollen wir langfristig etwas bewegen, müssen wir dabei helfen, dass sich die 80 Prozent finden. Wir müssen unterstützen, wo wir können und offen sein für die Beteiligungs-Ideen junger Menschen, statt sie in aufgestülpten Appellen und Handlungsanweisungen direkt in Überforderung zu ertränken.
Das Fortschreiten der Normalisierung des Hasses ist längst in vollem Gange, übrigens nicht "nur" in Ostdeutschland. Ich glaube, dass es genau deswegen keine vermeintliche "politische Neutralität" mehr geben darf. Selbst wenn man daran glaubt, der politisch neutralste Mensch der Welt zu sein, darf politische Neutralität nicht bedeuten, dass bei Menschenfeindlichkeit geschwiegen wird. Denn mit dem Schweigen bist du nicht neutral, sondern stimmst dem Hass zu. Das müssen wir denjenigen, die sich noch immer raushalten, klarmachen.
Jakob Springfeld ist Klima- und Menschenrechtsaktivist, Autor, Student und Podcasthost und engagiert sich für einen solidarischen Osten. Anfang 2025 erschien sein Buch "Der Westen hat keine Ahnung, was im Osten passiert – Warum das Erstarken der Rechten eine Bedrohung für uns alle ist".