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05.06.2019

Gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Folgen für Projekte der Demokratieförderung – Redemanuskript zum Deutschen Stiftungstag in Mannheim

Letztens hörte ich auf einem Schulkonzert eine Coverversion von "Wind of Change" – jener Scorpions-Hymne in den revolutionären Zeiten um die Jahre 1989/90. Was war das für eine tolle Stimmung – schon im pfeifenden Einstieg –, diese Hoffnung auf Freiheit, Liberalität, Demokratie und internationale Solidarität, auf ein neues europäisches Haus, auf ein Aufeinanderzugehen, Wohlstand und Überwindung tiefer Gräben zwischen den Völkern, aber auch in den Gesellschaften selbst.
Jetzt – mal gerade eine Generation später – zeigen sich alte und neue gesellschaftliche Spaltlinien mit gewaltigen politischen Folgen. Der Optimismus ist gewichen, Ängste scheinen stärker denn je. Undenkbares ist wahr geworden. Was ist hier eigentlich los?

Beginnen wir mit den gesellschaftlichen Spaltlinien: Die soziale Frage, der alte Konflikt zwischen oben und unten, war in der westlichen Welt nie aufgelöst. Er wurde nur weniger thematisiert und z. T. verdrängt. Verdrängt vor allem auch durch die Globalisierung. Ein Teil der Armut und Ausbeutung wurde noch stärker als bisher international externalisiert – in ärmere Länder. Innerhalb der westlichen Gesellschaften schrumpfen die verbindenden und politisch vermittelnden Mittelschichten und verhärten die sozialen und kulturellen Milieus. Durch die fortschreitende Segregation in den Städten driften auch die Lebenswelten zunehmend auseinander. "Das, was unten ist, auch unten bleibt", wie Brecht einst dichtete, reproduziert sich derweil über Generationen hinweg, verdichtet in einzelnen Stadtteilen, den sogenannten sozialen Brennpunkten – die vor allem dann ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten, wenn es dort tatsächlich brennt wie einst in den französischen Vororten oder Schulen in ihrer Hilflosigkeit Brandbriefe schreiben. Dies geschieht mal im Kontext von Migrationserfahrungen, mal aber auch ohne. Gleichzeitig verstärkt auf der anderen Seite der sozialen Markierung auch eine finanzielle und kulturelle Elite die Ablösung und Abschottung von den Untiefen sozialer Ungleichheiten. Die zunehmende Privatisierung früher staatlicher Leistungen in der Bildung, im Kranken- und Pflegesystem hilft ihnen genauso wie die Steigerung der Mieten und damit zusammenhängenden Verdrängungen dabei, zunehmend auch im Alltag unter sich zu bleiben, andere Lebenswelten gar nicht mehr wahrnehmen oder gar verstehen zu müssen.

Für den Gedanken der Demokratie haben solche Prozesse der Sprachlosigkeit untereinander bekanntlich grundsätzliche Folgen. Der große und viel zu oft vergessene Staatstheoretiker der Weimarer Republik Hermann Heller hat schon vor über hundert Jahren gewarnt: Demokratie braucht ein Mindestmaß an sozialer Gleichheit und Kommunikation über Schichten und Klassen hinweg, um bestehen zu können. Bestehen keine Kommunikation und keine Kenntnis mehr vor allem der Starken über die Lebenslagen der Schwachen, werden Kompromisse und damit ein Kern demokratischer Aushandlung unmöglich. Auch drohen demokratische Mehrheitsentscheide dann zur Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit zu werden. Kurz und knapp heißt das: Brechen Gesellschaften zu weit auseinander, wird Demokratie unmöglich. Den genauen Punkt dafür kennt keiner. Umso gefährlicher ist es, solche Entwicklungen einfach laufen zu lassen.

Eine auch international zunehmende Spaltlinie zeigt sich scheinbar zwischen den größeren Städten und ihren unmittelbaren ländlichen Einflussgebieten einerseits und den vor allen peripheren ländlichen Regionen andererseits. Vor allem durch die Schnelligkeit des Wandels in den Städten, beschleunigt durch die Digitalisierung und Prozesse der Globalisierung, driften Lebenswelten und damit verbundene Einstellungen zunehmend auseinander. Das ist die eine Erklärung. Wichtiger scheint mir, dass an dieser Stelle ein grundsätzlicheres Problem zu Tage tritt: nämlich eine Spaltlinie zwischen denen, die für eine "offene" Gesellschaft eintreten und denen, die meinen, sich zurück in eine "geschlossene" Gesellschaft entwickeln zu können. Offene Gesellschaft meint dabei Ideen von einer tendenziell vielfältigen Einwanderungsgesellschaft, von internationaler Zusammenarbeit und Solidarität, von Optionen der Überwindung nationalstaatlicher Handlungsebenen in neue internationale Systeme wie z. B. die Europäische Union. Die Vertreter der "geschlossenen" Gesellschaft wollen in eine übersichtlichere Welt, mit weniger ausdifferenzierten Lebenswelten, klaren Regeln z. B. im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Vor allem geht es ihnen um die Herstellung eines homogenen Volkes im Rahmen eines souveränen Nationalstaates. Diese Spaltlinie scheint sich zuletzt deutlich vertieft zu haben – auch wenn sie nicht die ganze Gesellschaft trifft, wie jüngere internationale Studien zeigen. Diese sprechen von einer dritten, eher zur offenen Gesellschaft tendierenden Gruppe, denen jedoch materielle Werte wichtiger seien als die Ideen der offenen Gesellschaft und dadurch auch für charismatische Anführer*innen der geschlossenen Seite potenziell erreichbar seien.

Diese übergeordneten Tendenzen zeigen sich alle auch auf nationaler Ebene. Spezifisch hinzu kommt eine Erfolgsgeschichte der Radikalisierung in der Mitte der Gesellschaft. Seit dem Jahr 2002 warnte der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer vor dem Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft. Im politischen System fand dieses Syndrom zunächst keine genuin politische Vertretung. Die offen rechtsextremen Parteien waren für diese Menschen wenig attraktiv und vor allem den bisherigen Volksparteien CDU, CSU, SPD und in Ostdeutschland auch der Linken gelang es, Teile dieser Milieus an sich zu binden. Das ist heute weniger der Fall: Ein erster Etappenerfolg der Radikalen waren die Diskussionen in der sogenannten Sarrazin-Debatte. Offener Rassismus und Antisemitismus aus dem Munde eines Berliner SPD-Senators konnte nun symbolhaft im Buchladen bestellt und im Salon bejubelt werden. Zeitgleich verschärften und professionalisierten sich die radikalen Onlinedebatten. PEGIDA brachte die Einstellungen dann auf die Straße – zuerst mit mehr, aber zunehmend mit immer weniger Distanz auch zum offen militanten Rechtsextremismus. Die AfD ist nun der parteiförmige und parlamentarische Arm dieses Milieus. In ihr kann man offen das sagen, was bisher nur in den rechtsextremen Parteien wie der NPD möglich war und trotzdem gesellschaftlich Karriere machen. Das ist tatsächlich neu. Viele frühere Tabus von Rassismus und Antisemitismus sind dadurch gefallen und entfalten nun in regional unterschiedlichen Geschwindigkeiten ihr schleichendes Gift für die demokratische Kultur und vor allem auch für gesellschaftliche Minderheiten.

In einigen Kommunen und zukünftig vielleicht auch Ländern wird die AfD voraussichtlich mehrheitsfähig. Oft höre ich dann zur Entlastung: Wenn die Demokrat*innen sich zusammenschließen, können absolute Mehrheiten doch verhindert werden. Ich hoffe sehr, dass das stimmt. Sicher bin ich mir aber nur, dass es die heutigen Folgen des Aufstiegs der AfD gewaltig unterschätzt. Mit ihrem Erfolg verbunden ist heute schon eine Verschiebung der Diskurse hin zu den geschlossenen Konzepten. Deutlich wurde dies im Diskurs zu den Geflüchteten: Aus dem "Wir schaffen das" wurde längst das alte "Wir schrecken ab", über die Integration der Geflüchteten, der "größten gesellschaftlichen Herausforderung seit der Vereinigung", wie der frühere Bundespräsident Gauck es formulierte, wird öffentlich kaum noch gesprochen – trotz zahlreicher ungelöster Fragen und Probleme in der Praxis. Zu groß ist die Angst, dass die AfD davon profitieren könnte. Dabei ist genau das ängstlich und falsch: Probleme müssen oft benannt werden, um gelöst werden zu können. Das Ganze braucht aber eine klare menschenrechtlich orientierte Haltung und ein offensives Eintreten für die eigenen Werte. Vorauseilende Feigheit war nie ein Beschleuniger der Freiheit und Demokratie. Da scheint mir Vieles im Argen zu liegen.

Vor allem gerät die Zivilgesellschaft immer mehr unter Druck. Die Erfahrungen aus Österreich, Ungarn und Polen zeigen deutlich, wie die dortigen Schwesterparteien der AfD zielgenau liberales und menschenrechtliches Eintreten erschweren oder sogar unterbinden und z. T. sogar offen kriminalisieren. Auch hier höre ich oft einen Einwand: Der Bund stelle doch über seine "Demokratieprogramme" immer noch viel Geld vor allem für die ostdeutsche Zivilgesellschaft zur Verfügung. Das stimmt und ist auch unerlässlich, hat aber Schwächen im Detail: Ein großer Teil der Programme ist unmittelbar gebunden an die Steuerung durch die örtlichen Kommunen, z. B. in den sogenannten Partnerschaften für Demokratie. Solange solches Handeln von Entscheidungen kommunaler Verwaltung abhängt, kann jedoch schon definitorisch kaum von Zivilgesellschaft gesprochen werden. Auch fehlt eine ehrliche Qualitätsdebatte und zumindest der Versuch einer kritischen Wirkungsanalyse. Viele der dadurch geförderten Kampagnen, Feste, Ausstellungen, Verkündungen, Tagungen, Broschüren und Veranstaltungen wirken seltsam losgelöst von jeder Problemanalyse. Viel wirkt aber nun mal nicht immer viel – wenn auf Zielgenauigkeit verzichtet wird. Vereinzelnd verkommt der Demokratiebegriff so sogar zur normativ leeren Parole und deren konkreten Installation zur Demokratiefassade.
Auch vor diesem Hintergrund ist das Engagement von Stiftungen in diesen Themenfeldern unerlässlich – vor allem aber auch dringend zu verstärken. Die Förderung der Zivilgesellschaft gerade vor dem Hintergrund der oben skizzierten Verhärtungen und Gefährdungen darf nicht allein beim Staat liegen – auch sie ist eine zivilgesellschaftliche Aufgabe.

Heute spreche ich hier auf Einladung der Freudenberg Stiftung – einer im Verhältnis zu anderen vielleicht kleineren, aber dafür kreativ und nachhaltig wirkenden Stiftung. Ihre beiden inhaltlichen Schwerpunkte scheinen mir angesichts der genannten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen logisch und gut begründet: soziale Inklusion einerseits und Demokratieförderung andererseits. Dabei geht die Stiftung vor allem da hin, wo es weh tut: zu den Brennpunkt-Schulen in den westlichen Großstädten, die in ihrer Not zum Brandbrief greifen, weil sie sich nicht mehr anders zu helfen wissen oder auch in den peripheren ländlichen Raum Ostdeutschlands, den andere insgeheim schon für die Demokratie abgeschrieben haben – um nur zwei Beispiele zu nennen. Beides begrüße ich sehr und zeigt gleichzeitig, dass neue Fragen manchmal neue, manchmal aber auch alte und bewährte Antworten brauchen.

Einige Stiftungen gieren immerzu nach der neuesten Innovation. Die Folge ist eine endlose Kette von Modellprojekten. Das mag intellektuell inspirierend sein, ist aber nicht immer praktisch sinnvoll. Ein Beispiel: Es ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis, dass Schulen ein zentraler Ort des Demokratielernens und der sozialen Inklusion sein können oder auch müssen. Um sie dazu aber ernsthaft zu befähigen, braucht es nicht alle paar Monate ein neues Modellprojekt – sondern eine Arbeit am Fundament, am System und vor allem an den Einbindungen der Schulen ins kommunale Umfeld, in die Nachbarschaft, die örtliche Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Soziale Arbeit. Das geht nur, wenn Schulen für diesen Wandel auch Zeit bekommen und die Projektlinie "Ein Quadratkilometer Bildung" zeigt in der Evaluation, dass das auch unter gewissen Prämissen gelingen kann. Das geht jedoch nur mit Stiftungen, die auch den Mut haben, Praxisprojekte längerfristig zu begleiten, ihnen bei der Professionalisierung und Qualitätsentwicklung zu helfen, was nicht ausschließt, gut gemeinte Praxis von gut gemachter Praxis zu entkoppeln und entsprechend nicht mehr zu fördern.

Oder blicken wir in den peripheren ländlichen Raum Ostdeutschlands. Die letzten Kommunalwahlen zeigen z. T. dramatische Verschiebungen zu Gunsten der autoritären Rechten. Die zarten Wurzeln der demokratischen Zivilgesellschaft werden hier über Jahre scharfen Gegenwind spüren. Sie sind aber die Wurzel von demokratischer Haltung, demokratischen Lernens und oft auch sozialer Inklusion durch ihr Eintreten für schwache Gruppen in der örtlichen Gesellschaft. Schon jetzt erleben sie ein Dauerfeuer an Unterstellungen, Feindseligkeiten und z. T. auch offenen Angriffen. Umso nötiger haben sie die Solidarität starker Partner.

Dies klingt bisher eher passiv, hat aber auch eine aktive Seite. Zivilgesellschaftliche Initiativen sind unerlässlich in der örtlichen Präventionsarbeit; sie prägen aber auch Diskurse, Einstellungen und Stimmungen. Sie können zusammen mit Kunst und Kultur diskursive und soziale Räume wieder zurückerobern, verloren gegangene Begriffe wie den der Heimat demokratisch und positiv besetzen. Es ist kein Zufall, dass Rechtspopulist*innen hier ihre Axt anlegen. Sie wissen schlicht, was ihnen gefährlich werden kann und will.

In dem eingangs erwähnten Lied "Wind of Change" heißt es an einer Stelle: "Take me to the magic of the moment. On a glory night. Where the children of tomorrow dream away." Ich hatte das Lied völlig vergessen. Doch das war ein optimistischer Blick in die Zukunft, der für den Moment Mut machte. Diesen Optimismus und diesen Mut sollten wir uns erhalten oder wiederbeleben – je nachdem, trotz aller Schwierigkeiten und Gegenwinde. Vor diesem Hintergrund freue ich mich, gleich drei tolle Praxisprojekte kennenlernen zu dürfen. Alle setzen auf die Möglichkeit der positiven Veränderung und wirken in ihrem Einsatz geradezu ansteckend. In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Prof. Dr. Dierk Borstel, Fachhochschule Dortmund