Social Distancing – diskriminierungskritisch befragt
Auf den ersten Blick macht das Virus alle gleich. Alle können sich anstecken und erkranken. Das Virus unterscheidet dabei nicht zwischen arm und reich. Herkunft, Hautfarbe, geschlechtliche Identität, sexuelle Orientierung und auch viele Formen von
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07.04.2020
Social Distancing – diskriminierungskritisch befragt
Auf den ersten Blick macht das Virus alle gleich. Alle können sich anstecken und erkranken. Das Virus unterscheidet dabei nicht zwischen arm und reich. Herkunft, Hautfarbe, geschlechtliche Identität, sexuelle Orientierung und auch viele Formen von Behinderung interessieren es nicht.
Auf den ersten Blick macht das Virus alle gleich. Alle können sich anstecken und erkranken. Das Virus unterscheidet dabei nicht zwischen arm und reich. Herkunft, Hautfarbe, geschlechtliche Identität, sexuelle Orientierung und auch viele Formen von Behinderung interessieren es nicht. Eben weil bestimmte Risikogruppen wie Ältere und Vorerkrankte besonders gefährdet sind, sind alle – auch die, die selbst kaum gefährdet sind – aufgefordert, ihren Teil dazu beizutragen, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Die Krise betrifft "uns", also alle. Doch betrifft sie uns alle gleich? In unserer Arbeit erleben wir, dass die Maßnahmen, die für alle gleich durchgeführt werden, für alle ganz unterschiedliche Auswirkungen haben. Das Virus macht uns nicht gleicher. Es vergrößert bestehende Ungleichheiten. "Stay at home"-Aufrufe, Quarantäne-Maßnahmen, Begegnungsverbote und Ausgangssperren haben nicht für alle Menschen dieselbe Konsequenz. Gerade der Entzug des öffentlichen Raums hat für verschiedene Gruppen eine sehr unterschiedliche Bedeutung.Für uns ist die zentrale Frage: Was können wir tun, um die von Diskriminierung betroffenen Menschen, mit denen wir zum Teil über viele Jahre vertrauensvoll arbeiten, jetzt nicht allein lassen zu müssen? Gerade junge Menschen mit Diskriminierungserfahrungen, die z. B. in unserem Jugendprojekt TALK zusammenarbeiten und diese oft als "familiy" bezeichnen, haben schon oft erlebt, wie Beziehungen abgebrochen werden, Vertrauen missbraucht wird, sie sich allein gelassen und unverstanden fühlen. Wir wollen diese Erlebnisse nicht wiederholen mit einem kompletten Rückzug wegen des Virus. Manche Gruppen haben in den Leben der Menschen mit Diskriminierungserfahrungen die Bedeutung einer Familie, weil die Herkunftsfamilien oft Orte der Gewalt, des Unverständnisses und der Ausgrenzung sind. Darum suchen wir nach Möglichkeiten des Kümmerns, des Kontakts, Wege, um unsere Zuneigung und unsere Liebe für sie spürbar zu machen. Auch in der Bewertung öffentlicher Maßnahmen auf kommunaler oder staatlicher Ebene lassen sich diese Widersprüche nicht auflösen. Es macht aber einen Unterschied, ob verschiedene Perspektiven und heterogene Lebenssituationen in der Ausgestaltung der Maßnahmen mitgedacht, soweit wie möglich berücksichtigt und, wenn dies nicht möglich ist, zumindest kommuniziert werden. Auf den ersten Blick leuchtet es ein, dass in dem Moment, in dem Kitas und Schulen geschlossen werden, auch Spielplätze abgesperrt werden, würde sonst die Begegnung und potenzielle Ansteckung nur verlagert. Wäre nicht auch denkbar, bei der Schließung der Spielplätze differenzierter vorzugehen? Könnte beispielsweise Personal aus Schulen oder Kitas nicht auch eingesetzt werden, um den Zugang nach sozialen Bedürfnissen zu regeln und den Ablauf so zu gestalten, dass die Ansteckungsgefahr minimiert wird? Wäre ähnliches nicht denkbar auf öffentlichen Plätzen? Der einfache Weg scheint, alle gleich zu behandeln. Mit Ausnahmen handelt man sich Konflikte ein, muss verhandeln und aushandeln. Aber alle gleich zu behandeln ist oft nur scheinbar gerecht. Solche Lösungen einer beschränkten Öffnung öffentlicher Räume wäre auch in Bereichen von Jugendsozialarbeit denkbar. Statt die mobile Jugendarbeit und Streetwork mit einem Begegnungsverbot zu belegen, könnten sie mit den Jugendlichen in vorsichtigen Kontakt gehen, um überhaupt noch mitzukriegen, in welchen Nöten sie vielleicht auch stecken. Eine körperliche Distanzierung muss nicht soziale Isolation bedeuten. Solidarität tut Not und ist in unglaublich vielen kreativen Initiativen auch zu beobachten. Das macht Mut. Solidarität heißt konkret sein! Solidarität heißt, nicht nur an sich zu denken und aus der eigenen Perspektive zu denken und zu handeln. Solidarität heißt, sich um das Wohl aller zu kümmern, in unterschiedlichen Lebenslagen und mal genau hinzuhören, was Menschen sagen und welche Forderungen oder Hilfsanfragen sie haben. Solidarität ist eine kollektive Angelegenheit. Das bedeutet im ersten Schritt Vereinzelung, Vereinsamung und Isolation entgegenzuwirken. Der Mensch ist keine Insel. Spätestens in der Krise wird deutlich, dass das neoliberale "Individuum" alleine nicht bestehen kann. Die gesellschaftlichen Herausforderungen können wir nur gemeinsam und solidarisch lösen. Der Ansatz des Powersharing kann uns helfen, alle mitzudenken, die leicht rauszufallen drohen. Das kann z. B. bedeuten, alternative öffentliche Räume mit Sicherheitsabstand und Hygienemöglichkeiten für Menschen bereitzustellen, um sich auszuruhen, um Gewaltfreiheit zu erleben, um Austausch mit Gleichgesinnten zu haben, um Gemeinschaft zu erleben. Wir können die Stimmen der Menschen hörbar machen, die zu wenig gehört werden. Wir können Gruppen sichtbar machen, die bei der Nachbarschaftshilfe vergessen werden. Wir dürfen die Opfer von Hanau gerade jetzt nicht allein lassen. Wir können den Schutz und die Menschenwürde von geflüchteten Menschen an den Außengrenzen Europas mitdenken. Die Krise betrifft uns alle, aber sie betrifft uns nicht alle gleich. Wenn unsere Solidarität ausgleichend mit diesen machtvollen Unterschieden umgeht und sich zugleich der nationalistischen Verengung entzieht, liegt in der aktuellen Krise auch eine Chance. Es sei zum Schluss in Tübingen an seinem 250. Geburtstag erlaubt, Friedrich Hölderlin zu zitieren: "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!"Dieser Text ist eine sehr stark gekürzte Fassung des Artikels "Social Distancing vor dem Hintergrund sozialer Ausgrenzung - Diskriminierungskritische Fragen und Quergedanken zum Umgang mit der Corona-Krise" vom 24.3.2020, geschrieben in einem gemeinsamen Schreibprozess einiger Kolleg*innen aus dem Team von adis e.V. in Tübingen.