Oh wie Ostdeutschland – Von Druck, Bedarf und Möglichkeiten
"Denk ich an Ostdeutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht." Was hier frei nach Heinrich Heine postuliert wird, könnte ein Resümee sein, das man auf der Grundlage der Berichterstattung in den Medien über Ostdeutschland ziehen
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01/10/2020
Oh wie Ostdeutschland – Von Druck, Bedarf und Möglichkeiten
"Denk ich an Ostdeutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht."
Was hier frei nach Heinrich Heine postuliert wird, könnte ein Resümee sein, das man auf der Grundlage der Berichterstattung in den Medien über Ostdeutschland ziehen könnte. Die digitale Gesprächsrunde "Oh wie Ostdeutschland" wollte genauer hinsehen. Am 01.10.20 haben sich Vertreter*innen der ostdeutschen Zivilgesellschaft mit bundesweit fördernden Stiftungen zu den Förder- und Strukturerfahrungen in Ostdeutschland ausgetauscht. Die beteiligten Stiftungen nahmen dabei zunächst die Rolle der Zuhörenden ein. In unterschiedlichen Gesprächsrunden wurden vor allem die Spezifika der Engagementlandschaft in Ostdeutschland sowie Bedarfe, Rahmenbedingungen und Notwendigkeiten beleuchtet. Dieses Papier versucht, die Impulse aus den Runden aufzugreifen und zusammenzufassen.
Die Spezifik "Ostdeutschland"
Der Blick auf die aktuellen zivilgesellschaftlichen Strukturen und Kontextbedingungen in Ostdeutschland ist ohne Rückblick auf die postsozialistischen Transformationsprozesse nicht möglich.Der Beitritt der DDR an den Geltungsbereich des Grundgesetzes setzte eine Vielzahl von Ereignissen in Gang, die die Landschaft bis heute prägen. Der Niedergang des ostdeutschen Wirtschaftssystems führte zu stark steigender Abwanderung von bis heute ca. 1,7 Millionen Menschen. Westdeutsche Eliten besetzen (bis heute) die Spitzen in Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft. Die Verwaltungsbeamt*innen bekamen in den 90er Jahren gar eine "Buschzulage", würden sie den Dienst in einem der ostdeutschen Bundesländer antreten. Auch der Ausbau der zu DDR-Zeiten bereits vorhandenen rechtsextremen Organisationen durch westdeutsche Kader ist ein Nachwendephänomen. Die Einführung der Marktwirtschaft passierte mit einer solchen Geschwindigkeit, dass sich bei vielen, deren Jobs von der Treuhand abgewickelt wurden, am Ende ein Gefühl des "Abgehängt-Seins" einstellte. Was häufig blieb, war ein diffuses Empfinden, "nicht gut genug zu sein" und der Zorn auf "die da drüben", verbunden mit einem alten Zorn auf "die da oben". Die zu DDR-Zeiten wenig entwickelte Konfliktfähigkeit erschwerte das langfristige Erkämpfen neuer Formen des Zusammenwachsens, bei dem beide deutsche Gesellschaften in langen Verhandlungen ihr Bestes hätten einbringen können. Auch wenn sich die Wohlstandsentwicklung im Osten nachweislich positiv entwickelt hat, ist sie in der subjektiven Wahrnehmung bei vielen nicht angekommen. Trotz alledem engagiert sich eine immer stärker werdende ostdeutsche Zivilgesellschaft für mehr Demokratie und Lebensqualität. Sie ist in den letzten Jahren gewachsen, wird durch Bundes- und Länderprogramme gestärkt und steht heute vor neuen Herausforderungen durch das Erstarken des parlamentarischen Erfolgs einer in weiten Teilen rechtsextremen Partei. Diese macht Stimmung gegen die demokratisch Engagierten, oft mit Erfolg.Auswirkungen auf Zivilgesellschaft und demokratische Strukturen
Diese Auswirkungen der Wiedervereinigung sind bis heute auch in den zivilgesellschaftlichen Strukturen spürbar. Abwanderung und Abwicklung der ostdeutschen Wirtschaft sorgen bis heute, insbesondere in den ländlichen Räumen, für klamme Kassen. Pflichtaufgaben der Kommune werden vorrangig behandelt, während Ausgaben für Jugend und Wohlfahrtspflege häufig einem Spardiktat unterworfen sind. Gebietsreformen in nahezu allen ostdeutschen Ländern führten außerdem zu weiteren Wegen und einer lokalen Identitätsentwertung. Unter diesen Rahmenbedingungen versuchen Akteure einer Zivilgesellschaft, die Fehlstellen staatlichen Handelns mit Engagement und Ehrenamt zu schließen. Die Strukturen, die es dafür braucht, mussten im Grunde alle nach der Wiedervereinigung neu geschaffen werden. Traditionslinien bestanden kaum: Kirchen sind im Osten schwach und Engagement, jenseits der staatlichen Kontrollsphäre, war nicht erwünscht. Hinzu kommt eine Unerfahrenheit staatlicher Vertreter*innen im Umgang mit zivilgesellschaftlichen Interessensvertreter*innen auf kommunaler Ebene. Beteiligungskultur ist ein Lernfeld, das bis heute in vielen ländlichen Strukturen besteht.So ist die Lage für kleinere zivilgesellschaftliche Initiativen vor Ort oft mühselig und von starker Vereinzelung geprägt. Zivilgesellschaftliche Strukturen sind insgesamt deutlich schwächer ausgeprägt als in westdeutschen Bundesländern.Zivilgesellschaft unter Druck
Die wirtschaftliche Lage, die prekäre Grundsicherung, die gesellschaftlich unbearbeitete, emotionale Betroffenheit und die fehlenden Traditionslinien bürgerschaftlichen Engagements schaffen ein besonders anfälliges Klima für populistische Vereinnahmungen. Die Strukturschwäche demokratischer Instanzen war in der Vergangenheit ein Einfallstor für zivilgesellschaftliche Angebote von rechts. Während sich die ohnehin schwachen demokratischen Vereine und Initiativen mehr und mehr, häufig aus wirtschaftsopportunen Gründen, aus den ländlichen Gebieten zurückzogen, wurde diese Lücke durch Engagement- und Erklärmomente von rechtsextremen Initiativen gefüllt. Die schleichende Raumgreifungsstrategie der Rechten zeigte Wirkung: Vielerorts dominieren sie die Meinungs- und Wahrnehmungshoheit und haben etablierte Strukturen durchdrungen. Für eine Mehrheit hat sich daraus eine neue Normalität entwickelt, deren menschenverachtender Kern selten hinterfragt wird. Gleichzeitig sorgt diese Raumgreifung dafür, dass Initiativen, die sich für ein demokratisches Miteinander einsetzen, in der Wahrnehmung der Bevölkerung dem linken bis linksextremen Spektrum zugerechnet werden, was weitere Ablehnungsreflexe hervorruft. Rechte Dominanzstrukturen haben sich in ländlichen Gebieten so kultiviert, dass eine Unterstützung demokratischer Initiativen, die Übergriffen und Anfeindungen ausgesetzt sind, von Seiten der Kommunen zunehmend ausbleibt.Begünstigt wird dies noch dadurch, dass die AfD in vielen Gemeinden auch die politischen Strukturen durchsetzt. Anfragen zu Tätigkeiten von demokratischen Initiativen auf kommunaler oder Landesebene erschweren das Klima zusätzlich und erhöhen den Druck auf die Zivilgesellschaft vor Ort.Demokratische Wiederaneignung und Stärkung der Zivilgesellschaft
Doch die Lage, so angespannt sie sich auch darstellen mag, ist nicht aussichtslos. In unserem Dialogformat wurden viele Ansätze für Handlungsmöglichkeiten identifiziert, die es ermöglichen, die Lage für zivilgesellschaftliche Organisationen in Ostdeutschland zu verbessern: 1. Investition in Strukturen – nicht in ProjekteEs ist augenscheinlich, dass Förderungen von Staat und Stiftungen einer Projektlogik folgen: zeitlich befristet, thematisch gebunden und auf einem Fundament von Unsicherheit. Dieses Paradigma sollte durch eine längerfristige Investition in die Strukturen als Ganzes abgelöst werden. Fließen die Förderungen, projektunabhängig, direkt in die Strukturen der Initiativen, so investiert man in deren Professionalisierung und Stabilisierung. Gelingt es, eine möglichst langfristige, institutionelle Förderung zu generieren, werden Räume geschaffen, in denen eigenes Fundraising, Mitgliedergewinnung, Ideenentwicklung für inhaltliche Themenfelder und Öffentlichkeitsarbeit für die Schaffung von demokratischen Narrativen überhaupt erst möglich werden. Außerdem eröffnet es Zukunftsperspektiven für qualifizierte Arbeitsnehmer*innen, die auf Dauer in der Region gehalten werden können. 2. Investition in staatlich-zivilgesellschaftliche (Kennen)Lern-Netzwerke
Es bedarf des Brückenbauens zwischen Kommunalpolitik, Kommunalverwaltung und lokalen NGOs, um durch Kommunikation Vertrauen aufzubauen. Die Handlungslogiken dieser Systeme funktionieren zum Teil sehr unterschiedlich. Oft fühlen sich einzelne Akteur*innen missverstanden oder nicht ernst genommen. Es gilt, bei diesen Netzwerken die Gemeinsamkeiten zu fokussieren und zu kultivieren, um ein nachhaltiges "Ökosystem" von Austausch und Verständnis zu schaffen. 3. Transparente Beteiligungsverfahren in der Kommune
Im Rahmen der oben beschriebenen Netzwerke ist die Entwicklung einer transparenten Beteiligungskultur unabdingbar. Das setzt im Wesentlichen ein Commitment der Verwaltungsspitze und der Gemeinderäte voraus, sich ernsthaft auf lokale Veränderungsprozesse einzulassen. Es geht um gegenseitiges Zuhören, es geht um Augenhöhe, es geht um die Schaffung von Vertrauen und es geht darum, Verantwortung abzugeben, um damit die Autonomie der lokalen Akteure zu stärken. So wird kommunaler Rückhalt für demokratische Initiativen erleb- und lernbar. Aus diesen Grundideen sind bereits erste Handlungsansätze und Formate gewachsen, die helfen können, diese beschriebenen Prinzipien modellhaft zu probieren.
Ideen für konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Demokratie vor Ort
Huckepack-Initiative:Stiftungen stellen gemeinsam einen Entwicklungsfonds für zivilgesellschaftliche Initiativen in den ostdeutschen Bundesländern zur Verfügung, aus dem die ausgewählten Initiativen für einen Zeitraum von einigen Jahren jeweils einen bestimmten Betrag an institutioneller Förderung erhalten. Darüber hinaus wird die Entwicklungspartnerschaft durch Fortbildungen/Seminare ergänzt, die die Professionalisierung der Initiativen unterstützen. Gleichzeitig nehmen die Stiftungen die lokalen Initiativen "Huckepack" und fungieren als "Türöffner" oder "Leumund" bei anderen Mittelgeber*innen, um so weitere Mittel für die lokale Arbeit zu ermöglichen. Dafür matchen sich Stiftungen mit Initiativen vor Ort. Sie lernen von- und miteinander. Neben den Fundraising-Aspekten können auch ideelle Prozesse in dieser Huckepack-Partnerschaft in den Blick genommen werden: Werden die Initiativen vor Ort Opfer von Anfeindungen oder Shitstorms, so kann eine bundesweit agierende Stiftung hier Gegennarrative aufbauen und auch vor Ort durch Wirkungsmacht eine demokratische Diskursverschiebung begünstigen. Vermittlungsagentur zwischen Stiftungen und lokaler Zivilgesellschaft:
Häufig hängt die Förderung von Strukturen und Projekten vor Ort von der Kenntnis über Zugänge ab. Lokale Initiativen sind häufig von der Vielfalt der Möglichkeiten überfordert und haben auf Grund der ehrenamtlichen Struktur wenig Möglichkeiten, in eine detaillierte Fördermittelrecherche zu gehen. Eine Vermittlungsagentur, die die lokalen Bedarfe vor Ort mit den Förder- und Zuwendungswünschen von Stiftungen in Einklang bringt, könnte Abhilfe schaffen. Diese Schnittstelle würde die Bedarfe vor Ort mit den Interessen der Stiftung matchen, Kontakte herstellen und vielleicht der grundlegende Baustein für die beschriebenen "Huckepack-Initiativen" sein. Die Anforderungen an eine solche Struktur sind gleichwohl hoch: Eine Anbindung muss niedrigschwellig genug sein, damit eine strukturschwache Initiative sie findet und Kontakt aufnimmt. Gleichzeitig müsste sie in der Stiftungswelt so vernetzt sein, dass sich möglichst leicht Kontakte vermitteln und herstellen lassen.Kreative Dialog- und Entwicklungsformate:
Die Etablierung von Dialog- und Entwicklungsformaten, wie zum Beispiel eines Hackathons, bei dem Stiftungen, kommunale Vertreter*innen und Initiativen gemeinsam an Lösungen für lokale Problemstellungen arbeiten, scheint in vielerlei Hinsicht sinnvoll zu sein. So kann das Verständnis füreinander gestärkt werden und sich eine gemeinsame Sprache entwickeln. Gleichzeitig kann es so gelingen, dass bedarfsorientierte Förderlösungen vor Ort entstehen, die genau das in den Blick nehmen, was vor Ort als notwendig, wirksam und wichtig begriffen wird. Durch die lokalräumliche Ausrichtung für die Erhebung und Bearbeitung der Bedarfe kann es zu einer höheren Identifikation und Akzeptanz der Lösungsansätze der Bürger*innen vor Ort kommen. Gleichzeitig werden Vergabekriterien und Bedürfnisse der handelnden Akteur*innen füreinander transparent.Digitale Roundtable für Bürgermeister*innen:
Auch (ehrenamtliche) Bürgermeister*innen geraten, wenn sie sich für ein demokratisches Miteinander einsetzen, zunehmend unter persönlichen Druck. Sie sind mit Anfeindungen und Bedrohungen konfrontiert. Auf der anderen Seite haben wir Bürgermeister*innen, die die diffusen Ängste der Bürger*innen, vor allem was als fremd und neu gelesen wird, mittragen oder sogar noch verstärken. In jedem Fall sind die Bürgermeister*innen Schlüsselfiguren, die das Klima in der Kommune mitprägen. Mit einem digitalen Roundtable können Bürgermeister*innen untereinander ins Gespräch gebracht werden, um auch hier Lern- und Dialogräume zu schaffen. Die Idee ist es, dass im Dialog Haltungen und Handlungsansätze reflektiert und die Rolle der zivilgesellschaftlichen Initiativen in den eigenen Kommunen beleuchtet wird. Etablierung von Ansätzen des Community Coachings:
Community Coaching beschreibt einen Handlungsansatz, der im Kern die Analyse von Demokratiegefährdungen mittels wissenschaftlicher Methoden und die Entwicklung von Strategien und kontextuell angepassten Praxisformen zur Stärkung demokratischer Kultur vorsieht. Dabei geht der Ansatz davon aus, dass Voraussetzung für das Gelingen die Anerkennung und Wahrnehmung der lokalen Besonderheiten ist. Die Akteure vor Ort werden in der Analyse und der Entwicklung von Maßnahmen extern begleitet und gecoacht. Hier könnten unterschiedliche Verfahren, die bereits in Anwendung sind, auf den Prüfstand gestellt und bilanziert werden, um zu ermitteln, was "state of the art" ist.