Mehr Ich wagen? Die CIVIS Medienkonferenz 2020 über die Bedeutung von Identität im Journalismus
Menschen mit Migrationsgeschichte sind in deutschen Medien stark unterrepräsentiert. Wie wirkt sich dies auf die Berichterstattung aus und welche Rolle spielt die
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01.12.2020
Mehr Ich wagen? Die CIVIS Medienkonferenz 2020 über die Bedeutung von Identität im Journalismus
Menschen mit Migrationsgeschichte sind in deutschen Medien stark unterrepräsentiert. Wie wirkt sich dies auf die Berichterstattung aus und welche Rolle spielt die biografische Prägung von Journalist*innen allgemein? Mit solchen und weiteren Fragen zu Identität und Identitätspolitik im Journalismus beschäftigte sich die CIVIS Online-Medienkonferenz am 01. Dezember 2020 unter Moderation von Isabel Schayani und Leitung von Ferdos Forudastan, Geschäftsführerin der CIVIS Medienstiftung.
Nähert man sich der Frage zur Rolle von Identitätspolitik zunächst nicht aus journalistischer, sondern soziologischer Perspektive, spricht vieles dafür, "mehr Ich zu wagen", um Ungleichheit sichtbar zu machen. Das Versprechen der Gleichheit nämlich, grundgesetzlich verbürgter Kern unserer Demokratie, ist in der Realität weit davon entfernt, eingehalten zu werden, analysierte Prof. Dr. Naika Forountan in ihrem Impulsvortrag: Während 25 Prozent aller Bürger*innen in Deutschland einen Migrationshintergrund haben, sind es nur 6 Prozent der Lehrer*innen, 7 Prozent der Beschäftigten in der Öffentlichen Verwaltung und 4 Prozent der deutschen Stadt- und Gemeinderät*innen. Eine zu ihrem Bevölkerungsanteil starke gesellschaftliche Unterrepräsentation betrifft dabei nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, sondern z. B. auch ostdeutscher Herkunft. Genau diese Diskrepanz zwischen Norm und Empirie bezüglich des Paritätsversprechens verursache eine "kognitiven Dissonanz", aus der nur zwei Wege hinausführten: Sich der Norm immer weiter anzunähern - oder die Norm selbst herabzusetzen. Der aktuelle Aufstieg rechter Parteien lasse sich möglicherweise auch durch diese zweite Option erklären. Entscheidet man sich hingegen für erstere, müsse der Kampf um Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund als solcher benannt und ausgetragen werden, um eine Veränderung herbeizuführen – nicht nur von den Betroffenen selbst, sondern in Allianzen und vor allem top-down als "Chefsache" in Unternehmen und Redaktionen, wie Prof. Dr. Christine Horz herausstrich.Betroffenheit als Narzissmus-Falle?
Geht es um das konkrete journalistische Werk, zeigten sich die geladenen Medienschaffenden und -expert*innen - der freie Journalist und Buchautor Mohamed Amjahid, der FAZ-Redakteur Patrick Bahners, die stellvertretende Leiterin des ZDF-Hauptstadtstudios Berlin Shakuntala Banerjee, Prof. Dr. Tanjev Schultz (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und Jona Teichmann (WDR) - kritisch gegenüber einer zu großen Prominenz des "Ichs" der Verfasser*innen. Die Schwelle zum Narzissmus sei schmal und Journalismus müsse seinem Anspruch gerecht werden, mit dem Ziel einer möglichst großen Objektivität gerade mehr zu sein als ein persönliches Bekenntnis. So könne nur einzelfall- und genreabhängig, mit journalistischen Qualitätskriterien als Maßstab, entschieden werden, ob und inwiefern die Person des oder der Autor*in eine Rolle spielen soll.Vielfalt, so wird auf dem Podium übereinstimmend festgehalten, müsse sich vor allem auf eine Vielfalt von Perspektiven beziehen und nicht auf einen schemenhaften "Migrationshintergrund". Andere Identitätsmerkmale wie die soziale Herkunft prägen die eigene Sicht auf die Welt nicht weniger. Im Umkehrschluss gehe es nicht darum, Journalist*innen mit Migrationshintergrund in der Berichterstattung rund um Einwanderung und Integration mehr Gehör zu verschaffen oder Betroffenen ein "Meinungsmonopol" zuzuerkennen, sondern darum, grundsätzlich bei allen Themen auf eine möglichst große Perspektiven- und Positionenvielfalt zu achten. Diese müsse nicht immer zwingend explizit nach außen getragen werden, sondern könne sich auch in internen Prozessen in den Redaktionen widerspiegeln (Shakuntala Banerjee).Identitätspolitik hat - nicht nur, aber gerade auch im Journalismus - kontroverses Potenzial, zeigten die Debatten der CIVIS-Medienkonferenz. Es muss ein Spagat gelingen zwischen der klaren Benennung von Benachteiligungen und der Überwindung starrer Kategorisierungen von Minderheiten, zwischen einem gleichberechtigten Zugang marginalisierter Gruppen zu allen Themen und Positionen im Medienbetrieb bei einem Festhalten an journalistischen Qualitätskriterien als oberster Priorität.Der vorliegende Artikel ist ein Bericht der Freudenberg Stiftung. Die Freudenberg Stiftung gründete gemeinsam mit der ARD, vertreten durch den WDR, die CIVIS Medienstiftung und ist bis heute Gesellschafterin und Förderpartnerin.