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11. November

Kein Dach über dem Leben – und wie es dazu kam: Ein Theaterstück für Jugendliche zum Thema Obdachlosigkeit

Das Theaterstück "Kein Dach über dem Leben – und wie es dazu kam" des COMMUNITYartCENTERmannheim
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11.11.2022

Kein Dach über dem Leben – und wie es dazu kam: Ein Theaterstück für Jugendliche zum Thema Obdachlosigkeit

Das Theaterstück "Kein Dach über dem Leben – und wie es dazu kam" des COMMUNITYartCENTERmannheim hatte am 11. November 2022 Premiere an der Marie-Curie-Realschule in Mannheim. Basierend auf der Bestseller-Biografie des ehemaligen Mannheimer Obdachlosen Richard Brox haben die Theatermacherinnen Annette Dorothea Weber (Regie) und Hedwig Franke (Text und Spiel) ein Stück geschaffen, das die Kindheit eines obdachlosen Menschen in den Fokus rückt – und so mit Schüler*innen über ein Thema ins Gespräch kommen will, das allgegenwärtig und doch unsichtbar ist.
Foto: Markus Herrmann
Der Pianist fühlt sich gestört. Konzentriert wollte er sich in der Turnhalle den letzten Proben für sein Konzert widmen, da bemerkt er die Obdachlose, die dort ihr Nachtquartier aufgeschlagen hatte und hastig schmatzend ein paar Happen zu sich nimmt. Hilflos reicht er ihr eine Banane, man ist ja nicht so. Die Obdachlose beginnt zu erzählen, begleitet von den virtuosen melancholischen Klängen des Klaviers, unaufgeregt zugleich – wie Schmerz und Leid, die lange zurückliegen und ihre Spuren sowieso längst unwiderruflich hinterlassen haben.

Sie erzählt ihre Geschichte, die in Wirklichkeit die des Mannheimers Richard Brox ist, der 30 Jahre lang auf der Straße lebte, bis ihm mit Unterstützung des Investigativjournalisten Günter Wallraff die Veröffentlichung seiner Biografie gelang. Seine Geschichte ist einzigartig und doch könnte sie auch die jedes der rund 200 Obdachlosen in Mannheim sein.

Klaviermusik kennt die Obdachlose nur zu gut. In ihrem ersten Leben, zu Hause bei den Eltern in der Mannheimer Schönau, hatte eines gestanden. Die Mutter spielte oft, stundenlang. Sonst bekam sie nicht viel von ihrem Kind mit, ebenso wenig vom Vater. Liebe gab es nicht, Essen oft auch nicht, dafür viel Alkohol und Schläge.

Im Alter von fünf Jahren schritt das Jugendamt ein: Kinderheim. Ein Bett, ein voller Magen, getauscht gegen Angst und Einsamkeit. Sie setzt alles daran, um zurück nach Hause zu dürfen.
In der Schule, mit sieben Jahren, hält sie es keine zwei Wochen aus. Das kleine Mädchen kann nicht stillsitzen, sich nicht konzentrieren, keine Regeln einhalten, keine Freund*innen finden. Ihre Verzweiflung von damals bricht aus ihr heraus, ganz nah kommt sie jetzt zu den Schüler*innen im Publikum: Verstehen sie, was sie damals gefühlt hat? Verstehen sie, was es bedeutete, zwei Jahre später wieder in einem Heim zu landen, als "Schulverweigerin", dieses Mal bei Nonnen, die mehr schlugen als beteten? Deren Brutalität färbte sich auf die Kinder ab, alle gegen jeden, jeder gegen alle.

Was wurde dann, mit 13 Jahren, als der Vater starb? Eine liebevolle Pflegefamilie, die Rettung, endlich alles gut? Fast hätte man es geglaubt, aber die gnadenlose Realität treibt die Jugendliche auf die Straße, Drogen kommen ins Spiel. Nach Hause geht sie nur noch, wenn die Sehnsucht zur Mutter zu groß wird, trotz allem. Sie stirbt, als die Tochter 21 Jahre alt ist. Bald stehen die Gerichtsvollzieher vor der Tür, die Wohnung ist unangemessen, zu groß für eine Person. Es bleibt eine Viertelstunde, um ein ganzes Leben in zwei Plastiktüten zu packen. Von da an: Kein Dach mehr über dem Leben.

Die Schüler*innen sind sichtbar ergriffen. Mit minimalen Mitteln und in nur 25 Minuten schaffen es eine Schauspielerin (Hedwig Franke) und ein Musiker (Mike Rausch), das Publikum mitten hineinzuziehen in ihre Welt, in das, was sie zu sagen haben oder sagen wollten, wenn es nur Worte dafür gäbe.

Die auf Interaktion und Diskussion zielende Aufführung ist so angelegt, dass viel Raum für den Austausch von Eindrücken und Fragen bleibt. Die Probleme, die im Stück angesprochen werden, kennen die Schüler*innen aus der Neckarstadt-West gut. Sie sind alle schon mit Obdachlosen in Berührung gekommen, wissen Plätze und Orte in Mannheim, wo sich besonders viele von ihnen aufhalten und berichten von ihren Erfahrungen. Auch schwierige Elternhäuser sind für manche Realität. Gemeinsam überlegen sie, was die Gründe für Obdachlosigkeit sein können, wer die "Schuld" trägt und was getan werden könnte, damit Menschen nicht in eine solche Abwärtsspirale kommen.

Wie sie wohl der oder dem nächsten Obdachlosen gegenübertreten, dem sie auf Mannheims Straßen begegnen? Vielleicht sehen sie in ihr oder ihm das Kind, das doch nur geliebt werden will.


An einer Aufführung interessierte Schulen können sich direkt an das COMMUNITYartCENTERmannheim wenden. Pädagogisches Material zum Stück steht zum Download zur Verfügung.



Die Freudenberg Stiftung unterstützt das COMMUNITYartCENTERmannheim zusammen mit der Stadt Mannheim, der Heinrich-Vetter-Stiftung, der BT Spickschen Stiftung, den Open Society Foundations und weiteren Förderpartnern.